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Zweimal nur hatte ich Angst.

Nie hatte ich wirklich Angst um meinen Vater, auch wenn die Arbeit, mit der er sein Geld verdiente alles andere wie ungefährlich war. Er hatte sich, wie viele junge Menschen heute auch, in jungen Jahren dazu entschieden, zur Fahne zu gehen, was heute Bund heißt.
Ab hier wird es persönlich. Wer das nicht braucht, klickt woanders.
Nach seiner Grundausbildung und nachdem er sich dann verpflichtet hatte, konnte er selber entscheiden, bei welchem Truppenverband er zukünftig dienen wollte. Er entschied sich, aus rein pragmatischen Gründen, gegen die NVA und wollte seine Zeit bei den Grenztruppen abreißen. Das eigentlich nur deshalb, weil er damit die Chance hatte in der Nähe von Berlin bleiben zu können, was er als Kind vom Dorf durchaus zu schätzen gelernt hatte. Er genoss es, einfach mal in die Haupstadt zu fahren, um dort H-Milch, Ketchup oder einen Kotflügel für den alten Trabbi zu kaufen. Es war eine Art Shopping-Tour auf ostdeutsch. Er mochte das und machte regelmäßig ein Familien-Event daraus. Ausserdem hatte er hier seiner Familie ein Nest bereitet und nebenbei hat er sich von seinem Geld irgendwie einen Garten zusammengespart, was wohl schon immer ein Traum von ihm gewesen sein muss. Er wollte nicht irgendwo nach Thüringen, oder Sachsen hinter irgendeinem Wald, irgendwelche Versorger-Tätigkeiten übernehmen. Also entschied er sich in frühen Jahren dazu, mit seiner bescheidenen Kraft den antiimperealistischen Schutzwall zu verdeitigen, was hier drastischer klingt, als es wohl tatsächlich Triebkraft war, die zu seiner damaligen Entscheidung geführt hatte. Er war eher so der praktische und bequeme Typ.
So konnte er dann jeden Tag, ausser bei Nachtschicht, nach Hause fahren, hatte freie Wochenenden, verdiente nicht schlecht, konnte über die Jahre zuvor aufgebaute Beziehungen pflegen, was in der damaligen Zeit eine nicht unwichtige Rolle spielte und war eigentlich immer zu Hause. So wie alle anderen Väter auch. Allerdings war er immer auch in „Bereitschaft“ was soviel hieß, dass er immer verfügbar sein musste. Und ich meine wirklich immer! Ausnahmen gab es nur dann, wenn er Urlaub hatte. Da fuhr er dann mit uns über wahrscheinlich jeden Quadratzentimeter, den dieses kleine, graue Land zu bieten hatte. Er zeigte uns alles! Ich kann mich nicht erinnern, auch nur irgendetwas, dass in diesem Land nur ein wenig sehenswert war, nicht gesehen zu haben. Er zeigte es uns, des Zeigens wegen und eröffnete zumindest mir, damit die Möglichkeit Sachen zu sehen, Sachen zu lernen, an die er selber sicher nicht mal gedacht hatte.
Er war beliebt, obwohl er Vorgesetzter war. Staabshauptfeldfebel, was alle immer „Spieß“ nannten. Er verteilte die Urlaubszeiten und war bei denen nie zimperlich, wenn die Rekruten ihn dabei unterstützten, seinen Bungalow zu bauen. Er war nie wirklich ein Handwerker, eher so der Typ; „Hauptsache das hält. Irgendwie.“ und war froh, gelernte Leute um sich zu haben, die wussten, was sie da taten. Dann gab es Bier und Goldi für alle. Das Bier kam nicht aus Kästen, sondern häufig auch aus dem Fass. Ja, es waren mitunter eben viele Soldaten da um mitzubauen. Manche auch, die eigentlich Freigang oder Urlaub hatten. Sie kamen dann, um den Estrich zu gießen, ein neues Fundament auszuheben, das Dach zu decken, oder was weiß ich. Ich glaube sie mochten ihn. Er war nicht streng und brüllen war so gar nicht sein Ding, auch zu Hause nicht. Irgenwann dann, es muss Ende der Achtziger gewesen sein, schlief ich eine Nacht bei ihm im Büro, wei ich eben das immer mal tun wollte. Nur mal so. Einer seiner Hauptgefreiten erklärte mir, wie der KC 85, der bei meinem Vater auf Stube stand funktionierte und so spielte ich die ganze Nacht an diesem Rechner. Amüsanterweise ein Textspiel, was wohl heute Adventure heißen würde. Ich war Adolf und musste die Welt an mich reißen. Das ist kein Scherz. Hatte der Gefreite programmiert und ich fand es arschlustig. Strategie und so. Mein Vater hatte da keine Ahnung von dem. Wenn überhaupt, hackte er mit zwei Fingern alles in seine Schreibmachine.
Dann kam der 8. Novemeber 1989. Es war 3.45 Uhr mitten in der Nacht als es klingelte und ich die Aufregung, die es schon in den letzten Tagen im Haus gab, fast greifen konnte. Soldaten kamen und holten ihn ab. Er hatte Bereitschaft wie immer und nie war das wohl so ernst wie in dieser Nacht. Wir setzten uns alle vor den Fernseher und sahen die Bilder. Die Frau, die vor dem Brandenburger Tor den Soldaten verbal zusammenfaltete. Die Menschenmassen, die ihre Wut auf den Staat aus sich raus und diese damit auf die Strassen brachten. Diese Konfrontation zwischen Staat und Volk. Ich fühlte mich elend in diesem Moment. Ich hatte das Gefühl, ein Gegenüber der Menschen zu sein und wusste nicht mal warum. Ich hatte Angst. In genau diesem Moment hatte ich höllische Angst, dass ich meinen Vater nie wieder sehen würde. Er hatte vorher fast täglich die Möglichkeit, das, uns, alles hinter sich zu lassen und hat sie nie wahrgenommen. Er kam immer wieder, aber in dieser Nacht glaubte ich nicht dran. Das hat sich ganz tief eingebrannt.

Nur einmal noch, hatte ich eine so tief sitzende Angst um ihn. Am Anfang dieses Jahres.
Ich hoffte, es wäre genau wie damals, dass er wiederkommt, einen dämlichen Spruch macht und wir gemeinsam darüber lachen könnten.
Er kam nich.

Er hat nie über diese Zeit geredet. Wie das mit der Wende war. Mit ihm und seinem Leben auf der, im Rückblick, eigentlich falschen Seite. Er gab im Dezember 89 sein Parteibuch ab, sagte, dass „er in der Bundeswehr nicht dienen kann“ und das war es für ihn. Für immer.
Er hat nie darüber geredet. Ich habe nie danach gefragt. Das tut heute am meisten weh…

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