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Warum wir keine Schneebälle mehr auf Fenster warfen

Wir zogen mit 10-15 Leuten durch die „Neue Wohnstadt“, die eigentlich schon viel älter war, als die tatsächlich gerade erst neugebaute Trabantenstadt weiter östlich in dem Kaff, aber irgendwie war der Name ein Überbleibsel der 60er Jahre in denen diese Mietskasernen gebaut wurden und alle dort Wohnenden wollten sich wohl nicht von dem Namen trennen. Hatte ja auch irgendwie was ganz modernes, „Neue Wohnstadt“. Im Winter, wenn Schnee lag, gehörte es zu unserer kollektiven Freizeitgestaltung, möglichst viele der Fensterscheiben in dem Wohnviertel mit Schneebällen zu treffen. Die Häuser hatten nur vier Etagen, aber immer fünf Aufgänge, was eine recht gute Quote machen konnte. Wenn wir richtig gut zielten und fix genug waren, trafen wir von den 120 Fenstern einer Häuserfront die Hälfte. Dann aber mussten wir verdammt schnell sein, denn viele der jungen Familienväter standen sehr schnell in den Stiefeln und versuchten mindestens einen von uns zu bekommen, um demjenigen stellvertretend für alle anderen „einen Satz heiße Ohren“ zu bescheren. Die Frau hätte doch eben erst die Fenster geputzt und überhaupt, „Verdammte Dreckslöffel! Was fällt euch ein?!“

Es kam äußerst selten vor, das man einen von uns erwischte. Wir waren schnell, wir kannten jeden Winkel, jeden noch so versteckten Weg und jede Ecke. Außerdem wussten wir, dass man von vorne durch die Haustüren über den Keller auf der Rückseite wieder rauskam, wenn nicht abgeschlossen war, und abgeschlossen war fast nie. Überhaupt standen dort fast immer alle Türen offen, bis auf die der Wohnungen. Damals. Es war das Viertel in dem wir gerade dabei waren, groß zu werden, da konnte uns niemand was vormachen! Aber man kannte sich. Jeder wusste, wessen Kind man war und in welchem Aufgang die Eltern wohnten. Wir versteckten uns also immer ganz tief unter den Strickmützen. Es war eine Jagd – fast jeden Winter. Es war ein Heidenspaß – immer.

Kurioserweise ging in den ganzen Jahren nicht eine Scheibe zu Bruch. Zumindest nicht so, dass ich mich daran erinnern könnte, was jetzt aber auch nichts heißen muss. Das eine Mal mal aber erwischte uns dieser drahtige, junge Familienvater, der gerade erst samt Familie hinter dem Kaufhallenparkplatz in den ersten Stock gezogen war. Es war schon ein vorangeschrittener Winter, wir waren nicht zum ersten Mal an diesem Block, er muss uns gesehen haben und hinter der Balkontür gelauert haben. Wir erwischten eines seiner Fenster mit vier Bällen, er sprang in Schuhen vom Balkon, und schnitt uns so unseren Fluchtweg ab. Radikal. Er packte gleich vier von uns und wir dachten, es gäbe jetzt ordentlich Senge für jeden von uns. Zwei derer, die er nicht griff, bleiben dennoch da – wir waren loyal. Damals. Der Rest verpisste sich und verschwand im Halbdunkel dieses Winterabends.

Anders, als wir erwartet hatten, vermöbelte er uns nicht, worauf wir uns aber natürlich eingestellt hatten, er verpflichtete uns dazu, seine Fenster zu putzen. Alle! Das macht mit Balkon übers Eck sieben verdammte Fenster! Fenster, die wir jetzt zu putzen hätten und an denen es kein Weg vorbei gab, wenn man nicht doch das Risiko eingehen wollte, eine saftige Schelle zu kassieren. Also ergaben wir uns unserem Schicksal, zogen wohlerzogen unsere Schuhe schon im Flur aus und teilten die zu putzenden Fenster unter uns auf. Zwei Leute pro Raum. Ich erwischte ein großes. Natürlich. Seine Frau, die stinkend sauer auf uns war (Sie hatte erst die Fenster geputzt), gab jedem von uns eine Schüssel mit Wasser und einen Lappen. Keiner von uns wusste wie genau man Fenster putzen müsste, so das sie nachher nicht schlimmer aussehen würden als vor unserer Wurfattacke. Ich glaube aber, das war egal, es sollte wohl eher eine erzieherische Maßnahme sein. Also stellten wir uns dieser. Da waren wir nicht so. Damals.

Dummerweise stellte ich mich ziemlich dämlich an, stellte die Wasserschüssel auf einen Stuhl, den ich kurz darauf als Leiter zu gebrauchen versuchte wobei er umfiel und das ganze Wasser auf dem Teppich in dem Raum verteilte. Das hatte etwas Gutes, wir wurden sofort aus der Wohnung geschmissen. Die dachten, es war Absicht. Das hatte etwas Schlechtes, ich bekam meinen Satz heiße Ohren.

Es war das letzte Jahr, in dem wir dieses mit Schneebällen marodierende Hobby pflegten. Im Jahr darauf fiel die Mauer und wir hatten andere Sorgen. Damals. Vielleicht aber war die erzieherische Wirkung der Putzmaßnahme auch einfach nur das, was man etwas später dann als „pädagogisch wertvoll“ zu betiteln pflegte.

Fiel mir ein, als ich heute dieses Video sah und darüber nachdenken musste, wie beschissen die jungen Leute heute zielen, wenn sie Schneebälle werfen. Das hätte es bei uns nicht gegeben. Alte Männer, die mit Kameras hinter einem Fenster stehen und das Treiben auf der Straße aufnehmen hingegen schon. Damals.


(Direktlink, via TDW)

3 Kommentare

  1. hab8. Februar 2012 at 20:55

    wir haben schneebälle auf vorbeifahrende autos geworfen wenn wir an haltestellen gewartet haben.. bis eins hielt, zwei muckitypen in ledermänteln ausstiegen und uns ne wumme an den kopf hielten! haben wir dann auch nie mehr gemacht..

  2. Markus30310. Februar 2012 at 09:00

    Schöne Geschichte. Danke. Bei uns liegt immer noch kein Schnee…

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