Die ganz frühen 90er im Osten. Die Mauer war gerade innerhalb kürzester Zeit Geschichte geworden, die Sache mit der neu gewonnenen „Freiheit“ war das ganz, ganz große Ding. Nicht nur für die Alten – gerade für die Jungen, für die dieses Wort nichts weiter als ein völlig abstrakter Begriff war. „Was meint sie überhaupt, diese Freiheit?“ war der Soundtrack dieser Tage. Zumindest wir probierten damals nahezu alles aus. Irgendwer würde uns schon sagen, wo genau die Grenzen dieser neuen Freiheit überschritten wurden.
Wir klauten in der Schulpause mit 25 Leuten bei Rewe, der vor nicht mal drei Jahren noch „die Kaufhalle“ im nun so genannten „Ghetto“ war, wogegen keiner was unternehmen konnte, weil 25 Leute schlicht viel zu viele waren, gegen die man hätte was unternehmen können. Und an Einzelpersonen ging man nicht ran, weil 25 junge Leute in so einem Laden einen Höllen-Respekt erzeugen konnten. Eine wirkliche Konsequenz ergab sich daraus nicht, außer dass der Rewe ein Verbot für Schülergruppen während der Pausen erließ. Damit konnten wir gut leben und gingen nach Schulschluss eben mit 10 Leuten darein.
Wir zerstachen dem Erdkunde-Lehrer in der Pause alle vier Reifen seines Ladas, weil er im Unterricht immer seine Schülerinnen begrapschte, die auch unsere Freundinnen waren. Konsequenzen gab es auch darauf hin nicht. Er wusste wohl, dass das, was er der im Unterricht trieb nicht das war, was einem Lehrkörper in seine Stellungsbeschreibung geschrieben gehört. Außerdem war er ein – mit Verlaub – ein echtes Arschloch, den sie aufgrund seiner politischen Vergangenheit übergangsweise an unserer Gesamtschule geparkt hatten. So wie viele andere der damaligen Lehrer auch. Nur wenige blieben für die restlichen drei Jahre unserer Schullaufbahn überhaupt an der Schule, „schieden aus“, wie das damals offiziell genannt wurde, was am Ende meist „hatte eine MfS-Vergangenheit“ meinte.
Mit dem selben Lehrer kloppten wir uns, wenn er sich in Rempeleien auf dem Schulhof einmischte, was an der Tagesordnung war. Keine Konsequenzen. Wir schlossen Lehrer in Räume ein, brachen den Schlüssel ab und verklebten den Rest des demolierten Schlosses mit Sekundenkleber zu, worauf hin der Hausmeister einen Schlüsseldienst rufen musste, der die arme Frau erst zwei Stunden später aus dem Raum befreien konnte, was mir heute rückblickend wirklich irgendwie sehr leid tut. (Entschuldigung, Frau Behrend!) Keine Konsequenzen.
Wir traten am Morgen nach einem Karate-Kid-und-Chuck-Norris-Abend ein Loch in die Tür des Lehrerzimmers, weil wir wissen wollten, wer sein Bein wohl höher bekommen würde. Der Paul rammelte seinen Fuß so dermaßen hart gegen die Pressspantür mit Pappwaben, das er mit diesem darin hängen blieb und auf einem Bein rückwärts hüpfen musste, als von innen mit einer Heidenaufregung diese Tür geöffnet wurde. Wir hatten keine Ahnung, dass dort Lehrer drin waren. Konsequenzen? Dafür? Keine. Vielleicht eine schriftliche Ermahnung, die unserer Eltern nie erreichten und die wir manchmal selber unterschrieben. Telefone waren damals noch nicht so.
Wir flaggten die komplette Inneneinrichtung eines Klassenzimmers aus dem dritten Stock, so dass das komplette Ghetto dieser Party zumindest aus sicherer Entfernung beiwohnen konnte. Und auch dafür gab es keine Konsequenzen. „Was wir ein geiles Ding, diese Freiheit!“, dachten wir damals. „Davon nehmen wir gerne noch mehr.“
Aber letztendlich gab es dann doch eine Grenze, die nicht überschritten werden durfte. Nachdem sich Paul ob eines Schlüsselbundwurfes des Direktors, der genau Pauls Stirn landete, mit dem Direktor ins Flicken bekam, kassierte er einen endgültigen und konsequenten Schulverweis. Ein halbes Jahr vor dem Abschluss der 10. Klasse. Ab da wurde es ruhiger, auch diese Freiheit also hatte Grenzen. Hätte man uns ja auch früher mal mitteilen können, aber ich glaube, die Lehrer wussten eben auch alle nicht so genau, wer nun wie weit gehen konnte. Sie waren das ja alles nicht gewohnt, woher also sollten sie das auch wissen. Das mit der Freiheit.
So war das zu Beginn der 90er in wahrscheinlich einigen Schulen im Osten. Vor allem in denen, in denen sich jene sammelten, die kein Bock auf Abitur und die Pfeifen an den Realschulen hatten. In den Gesamtschulen. Sicher landeten dort auch welche, die leitungsspezifisch keinen Platz am Gymnasium oder der Realschule bekamen, aber das waren nicht alle. Einige wollten eben nur mit den „coolen Leuten“ zur Schule gehen.
Wir drehten also schon im Schulalltag ziemlich bis sehr am Rad, mit dem nachmittäglichen Freizeitprogramm will ich erst gar nicht anfangen. Jugendclubs gab es zumindest in meinem Kaff damals noch keine, die sollten erst ein-zwei Jahre zum Thema werden, als man feststellen musste, dass sich die ehemaligen Jung- und Thälmannpioniere, die ihre Nachmittage in den Jahren zuvor noch in Sportvereinen, Betriebssportgemeinschaften und Musiknachmittagen verbrachten, auf der Straße sammelten, was kein schönes Bild abgab und nach 3,4,5,6,7 Bier ganz sicher auch keines mehr war.
Dabei sammelte sich dort in den Ansammlungen junger Menschen nicht nur übermäßig viel rechtes Gedankengut, sondern auch der Wunsch nach Jugendhäusern. Beides passte meistens nicht so gut zusammen, denn wer wollte schon Truppen von Rechtsradikalen Häuser stellen, in denen die sich dann auch nachmittags noch treffen und gemeinsam betrinken konnten. Städte und Gemeinden tat sich schwer damit zu begreifen, dass man in derartigen Jugendhäusern auch politisch aufklärerische Arbeit leisten konnte. Durch Sozialarbeiter beispielsweise, die sich auch damals schon durchaus über politische Brisanz junger Rechter im Klaren waren, was in der Politik noch sehr viel mehr Zeit in Anspruch nehmen sollte, wie die 90er heute rückblickend und mitunter auf tragische Art und Weise verdeutlichen.
Dieser kurze Film hier ist ein Zeitdokument aus dem Jahre 1992. Er zeigt Jugendliche in Potsdam, die im Stern (einem ziemlich großen Neubaugebiet) täglich auf der Straße rumhingen und offenbar das Ding mit der neuen Freiheit ausprobierten. Sich betranken, Scheiben einschmissen, rechte Ideologien als Meinung zu verkaufen versuchten und vieles taten, um diese zu relativieren, was zu jener Zeit im Osten ganz weit verbreitet war und was womöglich auch heute noch in Deutschland an der Tagesordnung ist.
Am Ende aber wollten sie damals eins: einen Jugendraum, den sie als solchen nutzen konnten. Die Stadt brauchte dafür allerdings noch etwas Zeit. Irgendwann bekam der Stern dann seinen Klub. Ob diese jungen Menschen hier dann davon Gebrauch machten, entzieht sich meiner Kenntnis. Ob man im Vorfeld durch einen Klub hätte forcieren können, dass manche die Bomber-Jacken und Martens nicht aus vermeintlich politischen Motiven anzuziehen gedachten, leider auch.
http://youtu.be/povpLNPmbsI
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