Eigentlich bin ich nicht so der Tüp für Jahresrückblicke, will in diesem Jahr aber eine Ausnahme machen. Weil es mir wichtig ist.
Ich startete, wie viele Jahre davor auch, vorsatzlos ins Jahr 2019. Weil, wenn man keine Vorsätze hat, kann man keine brechen. Es lief so los, wie das Jahr davor. Und das davor. Gutes Essen, wenig Bewegung, viel Stress, den ich als solchen nicht spürte, oder nicht wahrhaben wollte. Ich hatte seit längerem körperliche Schwierigkeiten, die ich aufs Altern schob. Und auf die 120 Kilo, die ich seit ein paar Jahren schon mit mir rumschleppte. Hin und wieder Druck in der Bauchgegend, wenn ich mal wieder schwer gegessen hatte oder mich körperlich anstrengte, wobei „Anstrengung“ da sehr relativ war. Manchmal reichte es schon, auf Treppen in die dritte Etage zu laufen. Dann hatte ich erst leichte Schmerzen, später dann zunehmend stärkere, die allerdings auch wieder weggingen. Bis zum Abend des 23. März‘. Wir aßen hier reichlich große Rinderrouladen, Bohnen im Speckmantel und tranken Rotwein. Nach dem Essen, das sehr lecker war, bekam ich echt fiese Schmerzen in der Bauchregion, musste kotzen. Ich dachte, es läge am wieder mal zu fettem Essen und dass das schon wieder vorbeigehen würde, wie es das in der letzten Zeit ja schon öfter mal der Fall war. Aber: irgendwie ging das dann doch nicht einfach wieder so weg. Ich bekam Schweißausbrüche und Schüttelfrost. Und ich bekam tatsächlich ein bisschen Angst, dass das eben doch nicht der Magen sei, wovon ich bis zu jenem Abend ja ausgegangen war. Die Frau des Hauses holte den befreundeten Arzt, der hier in der Nachbarschaft wohnt. Der beruhigte mich, tastete mich ein bisschen ab, maß meinen Blutdruck und ging davon aus, dass es sich dabei um eine Magen-Schleimhaut-Entzündung handeln würde. Dennoch bat er mich, ihn am nächsten Morgen in seine Praxis zu begleiten.
Ich war davor ewig nicht beim Arzt. Als ich 35 wurde, ließ ich mich mal durchchecken. Meine Blutwerte waren damals so beschissen, dass ich dachte, dass ich erst dann wieder zum Arzt gehen würde, wenn die besser wären. Allein: ich änderte genau nichts an meinen Lebensgewohnheiten. Stopfte die halbe Woche irgendwelchen Müll in mich hinein, davon viel zu viel, und den Rest der Woche kochte ich immer ordentlich Fleisch. Am besten mit viel Butter. Und ich aß Unmengen Eis, trank fast zwei Liter Mate und/oder Brause am Tag und machte mir keine Gedanken um meine Gesundheit. Außerdem bewegte ich mich so wenig wie nötig. Ich wurde nicht fetter, was mir bis dahin reichte. Ich wurde aber auch nicht dünner, was schon damals gut getan hätte. Wenn ich mal zum Arzt ging, dann nur bei irgendwelchen Notfällen. Die kann ich ganz gut. Meistens sagten mir die Ärzte dann, dass ich unbedingt 30 Kilo abnehmen müsste, worauf hin ich abwinkte. 30 KILO?! NIEMALS würde ich das packen. Und überhaupt – irgendwie ging es mir ja auch nicht schlecht. Lief ja alles, irgendwie.
Auf Arbeit ließ ich nie was aus. Alles, was anlag, nahm ich mit – und ich sagte nie wirklich nein. Meine Arbeit macht mir Spaß und ich verstehe sie eigentlich nicht als Arbeit. Zum März hin beendete ich nach 400 Stunden Arbeit ein Filmprojekt mit Jugendlichen. Ein Riesenpensum. Später aber merkte ich, wie viel Stress ich dadurch hatte. Nicht des Projektes an sich wegen, sondern weil ich nebenbei alles andere auch so tat, als gäbe es dieses Projekt gar nicht. Ganz schön viel am Ende – und irgendwann meinte mein Körper dann, „Reicht jetzt, Digger!“ An eben jenem Abend im März.
Der benachbarte Arzt nahm mich dann am nächsten Morgen mit in seine Praxis, nahm Blut ab, machte ein EKG und rief einen Krankenwagen. Ich hatte einen Herzinfarkt. Mit jungen 43 Jahren. Nun rächte sich also meine Egal-Haltung, die ich mir und meiner Gesundheit lange gegenüber entgegen brachte. Da saß ich nun, weinte, konnte und wollte das alles nicht glauben. Ich ließ mich schweigend ins Krankenhaus fahren und hoffte, dass sich das alles als irgendein Missverständnis herausstellen würde, was es nicht tat. Ich musste dort bleiben, bekam furchtbar üble Medikamente, die mich schlimmer aus dem Orbit kickten, als jede der Drogen, die ich mein Leben lang ausprobiert hatte.
Meine Blutwerte waren, um es gelinde auszudrücken, eine Totalkatastrophe. Leberwerte schlimm, Cholesterin schlimm, Blutzucker noch schlimmer, Diabetes stand als Diagnose, ich musste Insulin spritzen. Also mehr als „nur“ ein Infarkt. Körperlich ein Wrack, so in der Summe. Ich war mental komplett am Boden und hatte keine Ahnung, wie ich aus dieser Nummer wieder rauskommen würde. Ich müsste mein komplettes Leben ändern müssen und war mir nicht sicher, ob das zu schaffen ich überhaupt in der Lage sein würde. Ich zweifelte daran stark. Ganz stark.
Ich lag ein paar Tage im Krankenhaus, bekam die widerlichste Pille meines Lebens und kurz darauf zwei Stents, die verstopfte Herzkranzgefäße erweitern sollten. Die Dinger werden dann kurz aufgeblasen, so dass sie die Durchblutung verhindern. Und da war dann dieses miese, schmerzhafte und mich lähmende Gefühl, das ich seit Jahren immer wieder mal hatte und das ich halt immer für Magenprobleme hielt. Allerdings deutlich stärker, als ich das bis dahin jemals hatte. Das also war die Wurzel des ganzen Übels. Als die Stents dann ihre Arbeit übernahmen, überkam mich ein seltsam wohliges und warmes Gefühl. Lange fühlte ich mich nicht so wohl. Der Prozedur konnte ich auf großen Monitoren zusehen, was irgendwie faszinierend war. Die Ärztin schob eine Art Drähte durch meine Arterien und platzierte so die Stents in Herznähe. „Wow!“, dachte ich. Der handwerkliche Teil war erledigt, aber ich wusste, dass das allein nicht ausreichen würde, wenn ich dort nicht bald wieder liegen wollen würde. Und glaubt mir, diese Pille, die die mir dort gaben, will ich ganz gewiss nicht so schnell wieder schlucken müssen.
Neben all dem dann das mit der Diabetes. Ich hatte wirklich tierische Panik davor, mir auf Dauer Insulin spritzen zu müssen. Klar, wenn es denn unbedingt nötig wäre, würde mir nichts anderes übrig bleiben, aber ich sah mich nicht darin, mir auf Festivals oder so Insulin in die Bauchdecke zu drücken. Ich würde soviel verändern müssen – und das schien mir in dem Moment die am schwersten zu akzeptierende Perspektive. Mir wurde aber klar, warum ich seit Monaten sehr schlecht schlief und jede Nacht 3-10 pinkeln musste: der Zucker.
Irgendwie bekamen die guten Leute im Krankenhaus es dann hin, die Zuckerwerte medikamentös einzustellen. Ich verließ das Krankenhaus mit 114 Kilo und wusste, dass da jetzt ein anderes Leben auf mich zukommen würde. Auf mich zukommen müsste. Kurz darauf begann meine Reha. Ausgerechnet in dem Kaff, in dem ich aufgewachsen war und das ich aus Gründen mit 17 verlassen habe. Ich hasste es, dort zu leben – nun sahen wir uns wieder.
Die Reha brachte mich sehr schnell an meine sozialen Grenzen. Ich arbeite zwar sehr gerne in der sozialen Arbeit mit jungen Menschen, mag fremde Menschen privat allerdings nicht sonderlich und meide sie gerne. Geht halt nicht, wenn du auf Reha bist – diese Menschen sind da halt auch. Die zu Rehabilitierenden bestanden zum Großteil aus Kartoffeln aus Brandenburg und Sachsen und natürlich verging keine halbe Stunde, in der nicht irgendwer mit Politik anfing und seine Vorliebe für die AfD zum Ausdruck brachte. Zum Kotzen. Ich entschied mich dazu, dort nur noch mit Kopfhörern rumzulaufen, die Gruppengespräche zu meiden und Sport zu machen. Und das tat ich. Acht Wochen lang fuhr ich jeden Tag nur dort hin, um Stunden mit Musik auf den Ohren auf dem Laufband zu verbringen, Ergometer zu fahren und an sonstigen Trainingsgeräten zu verbringen. Alles andere ließ ich ausfallen – es ging für mich nicht anders. Ich entschied mich dort in diesem Kontext auch dazu, nicht immer alles machen zu müssen. Nicht im Privaten, nicht auf Arbeit und auch nicht im Blog. Ich lief und lief und lief. Ich kam mir vor wie Forrest Gump, aber ich schwitzte deutlich mehr.
Zu Hause stellte ich ziemlich radikal meine Ernährung um. Theoretisch wusste ich all das, was mir die Ernährungsberaterin erzählte. Ich koche seit 25 Jahren und kenne mich da nicht wenig mit aus. Ich ignorierte das Schlechte halt immer nur. Ich verzichtete fast gänzlich auf Fleisch und fing damit an, sehr viel Gemüse zu essen. Auch nicht schwer, Kind 2 ist schon lange Vegetarier und wir konnten dann alle gemeinsam mal kein Fleisch essen. Außerdem verzichte ich seit dem rigoros auf jede Art von Zucker. Keine Mate, keine Brause. Außer mal ganz selten als Belohnung nach dem Sport, den ich nach wie vor regelmäßig mache.
Mit 108 Kilo verabschiedete ich mich aus der Reha, der Blutzuckerwert ging immer weiter runter. Mir wurde gesagt, dass ich kein Insulin spritzen müsste und dass das über Tabletten einstellbar bleiben würde. Meine Werte waren nach acht Wochen so, dass die besser hätten nicht sein können, wie die Ärztin mir bei der Entlassung sagte. Ich bedankte mich und kritisierte gleichzeitig die kartoffelige Haltung der Patientenschaft, worüber sie lächelte. Auch sie empfand das als befremdlich. Ich sagte dem Kaff, in dem ich einst aufwuchs mal wieder Good bye! und auf ein nicht allzu schnelles Wiedersehen.
Zurück auf Arbeit war meine erste Prämisse, auch mal Dinge nicht zu machen. Mal „Nein“ zu sagen. Stress zu vermeiden, sei einer der wichtigsten Faktoren und so, sagten mir alle. Und dann sagte ich halt auch einfach mal Dinge ab, die ich nicht tun wollte, wenn es andere gab, die sie ebenso gut erledigen konnten. Und das fühlte sich verdammt gut an. Lässt sich aber auch nicht immer so machen, denn Stress zu vermeiden, ist halt auch eine der schwierigsten Herausforderungen, denen ich mich seitdem stellen muss. Weil das Leben dir den Stress halt manchmal auch einfach so ungefragt vor die Füße spuckt und du dann damit umgehen musst. Ob du willst oder nicht. Aber ich versuche mein bestes. Ein Grund dafür übrigens, warum hier in den letzten Tagen relativ wenig los war. Ich zwinge mich nicht mehr dazu, nur des Bloggens wegen zu bloggen. Manchmal sind eben andere Dinge wichtiger – und dann gehe ich heute eben diesen nach. Das vermeidet Stress. Wirklich.
Nachdem ich aus der Reha kam, kaufte ich mir ein paar alte Räder und baute diese neu zusammen. Und dann fuhr ich damit. Und fuhr und fuhr und fahre bis heute. Wenn es geht jeden Tag. Und das verschafft mir nicht nur Glücksgefühle. Es verbrennt auch jede Menge Kalorien. Soviel, dass ich jetzt seit dem Abend im März über 30 Kilo abgenommen habe. Meine letzten Blutwerte aús dem Labor sind aktuell nahezu peinlich streberhaft: Cholesterin: sehr gut, Leberwerte: top, Blutzucker: sehr gut. Und, was viel wichtiger als das ist, ich fühle mich so gesund und so fit wie seit Jahren nicht mehr. Alles scheint gut. Wahrscheinlich auch wieder nur so lange, bis mir das Leben mal wieder vor die Füße spuckt, wie neulich mit der Abmahnungssache. Aber die habt ihr aufgefangen, so dass der sich dabei entstehende Stress wahrscheinlich in Grenzen halten wird. Und da kann ich dann gut mit leben.
Was noch wichtig ist: ich habe während dieser Zeit mitunter wirklich gelitten, mich gequält, nicht immer Hoffnung gehabt und manchmal auch einfach geglaubt, alles wieder so zu machen wie früher. Und dann war die Frau des Hauses, die Kinder und die von mir geliebten Freunde, die mich irgendwie motivierten, durchzuziehen. Weil sie mich einfach noch ein paar Jahre bei sich wissen wollen. Und ich mich bei ihnen. ❤️ Auf genau die und mit einem Teil davon trinke ich heute auf das alte Jahr. Das neue Jahr. Und auf das Leben.
Und ich denke an euch alle, wo auch immer ihr seid. Auf euch trink ich jetzt ein bis zehn Schnaps. Prost! Kommt gut rüber und passt auf euch auf! Und meldet euch nächstes Jahr mal – wir könnten zusammen ’ne Runde radfahren. Oder so.
Zum Schluss noch mein Lieblingstrack aus dem Jahr 2019. Till von Seins „Junjung“. So schön.
Album des Jahres geht an Kummer, was allerdings bei jedem Hören irgendwie die Laune verschlimmert, weil es daran erinnert, in was für eigentlich beschissenen Zeiten wir gerade leben. Aber wir leben, aber ich lebe noch. Und das ist dann schon auch noch ein bisschen geil.
Ich hab das jetzt nicht gegen gelesen, muss jetzt nämlich das Raclette für die wirklich geliebte Fam vorbereiten. Wenn ihr also Fehler findet, fragt nicht nach einem Lektorat und behaltet die einfach. Weil: Lektorat gibt’s hier nicht. Prost!
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