Ich war gerne Pionier. Ich war Kind und reflektierte das, was damals bei den Jungpionieren so passierte, natürlich nicht. Bis heute hege ich an diese Zeit primär gute Erinnerungen. Bis auf die Demütigungen, die den Mitschülern vor der versammelten Schule auf den Fahnenappellen widerfuhr, die nicht ganz so tickten, wie man sich das von ihnen wünschte. Bis auf die vorgeschriebenen 80% Politik, die ich als Agitator auf die Wandzeitung bringen musste. Auch dann, wenn Olympische Spiele oder Fußball-WM war, was natürlich viel wichtiger als Politik war. Ich mochte die Pioniernachmittage. Und das regelmäßige Altstoffe sammeln. Timur und sein Trupp. Ich merkte erst später, dass ein LKW voll Altpapier, den mein Vater von der Arbeit für die Sammlung in der Schule besorgte, bei SERO sehr viel mehr als nur eine Urkunde für das meiste Altpapier in diesem Jahr brachte, wie es sie in diesen Fällen in der Schule gab. Ich mochte den kleinen Trompeter. Ein Lied, das ich bis heute textsicher intonieren kann. Teddy Thälmann.
Über Politik machte ich mir keine Gedanken. Andere übernahmen das wohl für uns und wir liefen voll rein, ohne das zu verstehen. Wie auch? Wir waren Kinder.
Wir liebten es, mit dem Klassenwimpel an der Straße zu stehen, auf der regelmäßig die Friedensfahrt vorbeifuhr. Das Sammeln der Eicheln und Kastanien, die im Winter zu den Tieren in die Wälder gebracht wurden. Die Messe der Meister von Morgen, bei der ich mit einer Lichtorgel mal den ersten Platz belegte. Ich hatte sie mit einem Nerd aus der Klasse meines drei Jahre älteren Bruder gebaut, was wir keinem verraten hatten. Wir hatten sie als meine verkauft.
Ich mochte und hasste die Sportfeste zugleich. Ich konnte ganz gut Schlagbälle und die Attrappen der Stabhandgranaten werfen. Dreierhop und Weitsprung war scheiße. Wir wussten, dass Pioniere zum Direktor berufen wurden, weil sie Plastiktüten aus dem Westen mit in die Schule brachten und diese nicht auf links gedreht hatten. Also umgedreht hatten, so dass man die Logos nicht mehr sehen konnte. Wir wussten, dass die Frage nach der Uhr vor den abendlichen Nachrichten nicht ohne Grund gestellt wurde. Die der aktuellen Kamera sah halt anders aus als die der Tagesschau. Wir sprachen beim Fahnenappell als Jungpioniere immer den Spruch der viel älteren FDJler mit. „Druschba“. Wir wussten aber schon, dass die irgendwann zur „Zivilverteidigung“ mussten und die ersten Punks in ihren Reihen, sich packungsweise Pfeffer in den Rachen schütteten, um beim dafür durchgeführten Gesundheitstest durchzufallen. Und wir wussten, was sie für Probleme bekamen, wenn man sie dessen überführte. Das war emotional einengend, irgendwie.
Wir hassten unseren Staatsbürgerkunde-Lehrer dafür, dass er mit Schülern in der Pause auf dem vollen Hof den „Staubsauger“ machte, wenn er sie dabei erwischte, wie sie irgendwo Papier fallen ließen. Dann nahm er sie an den Beinen, trug sie kopfüber über den Hof und ließ sie mit ihren Händen Müll aufsammeln. Kurz nach der Wende bekam er dann dafür von den Großen aus der 10. auf die Fresse. Eine damals kleine Genugtuung. Seine Kollegen sahen aus sicherer Entfernung dabei zu. Niemand schritt ein.
Keine mochte die Pioniere aus Russland oder Polen, die wir jährlich in unseren Ferienlagern trafen und zu denen uns von oben Freundschaft und Treue zueinander verordnet wurde. Das wussten die von oben nicht und glaubten das wirklich. Aber in den alljährlichen Ferienlagern hatten die immer Aufkleber aus der Bravo und anderes Zeug aus dem Westen, was die Mädchen dazu brachte, sich viel mehr für diese Jungs als für uns zu interessieren. Häufig kam es zu Schlägereien und am folgenden Tag zu Entschuldigungen beim Morgenappell.
Dann dieser Nachmittag, an dem ich mich mit der eigentlich netten Pionierleiterin ins Flicken bekam, weil sie meinte, wir sollten eine Torte zu irgendeinem Anlass backen. Ich sagte, ich würde das nicht können. Ich war 12 und meine Skills eine Torte zu machen, gingen gen Null. Sie wollte das nicht gelten lassen, worauf ich erwiderte, dass Honecker nicht mal einen kalten Hund alleine backen könnte. Das war’s – ich war raus. Kein Gruppenrat mehr und man stellte mir die Möglichkeit in Frage, der Thälmann-Pionier werden und später der FDJ beitreten zu können. Dann wurde das alles zu einem sehr merkwürdigen klebrigen Gefühl, das bis zum Fall der Mauer anhielt.
Pionier zu sein, war rückblickend immer ein ambivalentes Ding. Auch wenn ich damals noch nicht wusste, was „Ambivalenz“ bedeuten würde.
Fiel mir gerade ein, als ich diese Doku über Pioniere in der DDR sah. Hier aktuell in der ZDF-Mediathek. Immer bereit? Heute nicht mehr.
https://youtu.be/CmzZ7nOoZnE
(Direktlink)
Wieder schön geschrieben. Und danke für den Ohrwurm. AAARGH
Fast immer musste ich irgendwen vorm Fahnenappell bitten mir den Knoten zu binden. Ich hab mir den nicht merken können. Reliquien wie den Ausweis, Halstuch, Nicki und auch Bücher hab ich aber nie wegwerfen wollen. Den „Lustigen Trompeter“ mochte ich auch und könnte den noch zusammenkriegen.
Die FDJ grüßte mit „Freundschaft“. Auf deutsch. „Druschba“ ist russisch, dies war nicht üblich.
Wenn der FDJ-Leiter beim Fahnenapell hier mit Freundschaft beim grüßte, murmelten alle „Druschba“ zurück. Ironisch und hier sehr üblich.
Also weiter nördlich war auch „Freundschaft“ üblich, nicht „Druschba“.
Ansonsten, wie man in der Doku schön sehen kann, sind die Unterschiede zwischen der DDR und dem Dritten Reich eher marginal, was die Wahl der Mittel der Beeinflussung der Kinder betraf.
Ich war auch gerne Pionier und stolz wie bolle, als ich endlich Thälmannpionier wurde, aber da war ich auch noch jung.
Weiß noch, wie ich in den ersten Wendejahren mal zu unserem Deutschlehrer sagte, daß die Sozialisten im Grunde nur rot angemalte Faschisten waren. Das hat den ziemlich aus der Bahn geworfen. Das war so ein ganz Roter, der sogar in Finnland arbeiten durfte und dann nach der Wende zurückkam. Weil er in Finnland aber offensichtlich weder mit der Stasi noch mit Staatsbürgerkunde was zu tun hatte, durfte er hier weiterarbeiten.
Daß die Leute, vor allem oben in Mecklenburg, vom Sozialismus die Schnauze gestrichen voll hatten, konnte der psychisch und intellektuell einfach nicht verarbeiten. Ach ja, Sachse war er auch noch, das hat oben im Norden auch nicht geholfen.
Wenn heutzutage die Schule mehr und mehr Zeit der Schüler*Innen in Anspruch nimmt und als neues Leitbild die willige, für den Arbeitsmarkt optimierte Arbeitskraft propagiert wird merkt man wie wenig sich verändert hat. Die Marschiererei ist weggefallen, aber nach wie vor ist die Schule in erster Linie ein ideologischer Staatsapparat.
oh. sollte garkeine Antwort sein.
Finde ich super, die Geschichte hier und auch die Art wie darüber reflektiert wird. Glaube solch eine Selbstreflektion war noch bis zur Jahrtausendwechsel für die allermeisten, aus verständlichen Gründen (gesellschaftliche Gehirnwäsche) verdammt schwierig.
Ich bin als Westberliner-Teenager ungefähr so etwa zwei mal im Jahr, wegen Familie, in die tiefste DDR (Landkreis Schwerin) mit dem Auto eingereist und habe so in gewisser Weise immer beide Seiten des Vorhangs sehen können. Dort habe ich immer auch den Kontakt mit gleichaltrigen gesucht und gefunden (Fussball/Volksfest/auf der Strasse spielen). Und die haben mir auch was von Handgranatenattrapenwerfen und Gewehrattrappenlaufen, sowie sportlicher Auslese erzählt. Etwas das für mich wie aus einer anderen Welt zu sein schien!
Habe da noch eine ganze Reihe echt kuriose Erinnerungen auf Lager, die eigentlich auch für einen längeren Blogpost reichen würden. also falls daran evtl. Interesse bestehen sollte, bitte einen Kommentar hier posten.
Na na na, tiefste DDR war das aber nicht. Schwerin war erstens schon sehr weit westlich, sodaß man neben Westfernsehen auch geographisch durch die Nähe zu Hamburg schon eine etwas andere Mentalität hatte. Zweitens war es nicht so eine Stasi-Hochburg wie z.B. Neubrandenburg, dort aufgrund der Geschichte und der Rüstungsindustrie.
Richtig tiefste DDR waren so die Kleinstädte um Dresden rum, z.B. Chemnitz, Görlitz usw. Die hatten dort noch nicht mal Westfernsehen und gleichzeitig gab es zwangsläufig auch nicht so viele „echte“ Kontakte nach außen wie in Berlin oder Rostock oder auch Leipzig. Die waren so richtig indoktriniert. Dort war meines Wissens auch der Alltag an den Schulen noch meist straffer als oben im schönen Mecklenburg, wo man sich schon immer etwas schwerer tat, irgendwelchen Ideologen hinterherzulaufen… ;-)
Habe eben noch mal genau auf die Karte geguckt… wir fuhren immer nach WITTENBERGE und das war wohl richtiger Weise – zumindest so wie ich mich errinnere: Landkreis Perleberg, Bezirk Schwerin. So ähnlich stand das jedenfalls immer auf den Strassenschildern. Und für mich als W-Berliner war das eine etwa 3 Stunden-Autoreise über Landstrassen in die – für mich tiefste – DDR :-D
Mein Vater kam aus einem 23-Seelen-Dorf bei Güstrow, wo wir ein paar Mal im Jahr hinfuhren. Das war auch trotz Westfernsehen schon ganz schön Pampa.
Und ja, wenn du Bock hast, schreib’s gerne auf. Pack ich hier dann rein. Vielleicht hast du noch ein paar Fotos aus der Zeit dazu. Würde mich sehr freuen.
Ich bin zur wendezeit eingeschult worden und weiß mich noch zu erinnern, dass ich als stift immer bisl bammel vor dem pionier sein hatte. Ich wollte da gar nich mitmachen, des kollektiven zwangs und drucks wegen. Wahrscheinlich weil man eben schnell ausgegrenzt und vorgeführt wurde, sobald man nicht mithielt. Oder mitmachte. Fand ich furchtbar.
Ich konnte trotzdem viel gutes aus der zeit mitmehmen und denke, dass socialism gute ansätze hatte und interessantere werte mitgab als es heut der fall ist (Jetzt klinge ich wie mein opa). Nur in der gesamtheit für mich scheiterte, aufgrund der vielen zwänge.
Bei uns (Jg. 1980) war die Antwort auf das „Seid bereit!“ nur „Keine Zeit!“ statt „Immer bereit!“, das ging aber nur wen man nicht direkt neben den Lehrern stand beim Fahnenappell.