Tag 5: Die Nacht war anders als erwartet relativ ruhig, Polizei kam keine. Nur das gegen um 5:00 Uhr der Berufsverkehr einsetzte, der natürlich auch über die benachbarte Brücke führt. Das war nach den Tagen, die immer in einer nächtlichen Ruhe mündeten doch etwas ungewohnt, und ja, auch etwas belastend.Wir als Betreuer standen alsbald auf, da an weiterschlafen gar nicht zu denken war. Wir machten Espresso und genossen es, ein paar Minuten für uns zu haben, so wie wir das jeden Morgen taten. Einige der Kids schliefen in dieser Nacht auf dem Floss, was an sich eine nette Idee wäre, wenn man das Floss dann auch richtig antauen würde, was sie nicht taten. Sie begnügten sich mit fünf Metern Paketband, was sie doppelt nahmen, um das Floss an einen Zaun zu binden. Als sie noch schliefen, machten wir uns den Spass und verlängerten das Band auf die doppelte Länge, so das sie erst mal einige Meter in die Flussmitte trieben. Um an Land zu kommen würden sie sich erstmal etwas anstrengen müssen. Das war ihnen später dann, natürlich, alles andere als Recht. Ein wirkliches Problem war es dennoch nicht.
Zum Frühstück kam dann der Anruf aus dem Krankenhaus, der die Info mit sich brachte, dass der dort liegende Teilnehmer besser nicht wieder aufs Floss steigen solle, was bedeutet, dass er die Tour abbrechen musste. Schade, aber die Gesundheit geht nun mal vor und wenn der Arzt dies als Empfehlung abgibt, werden wir uns daran halten.
Nachdem Frühstück gingen die Kids unsere 12 Euro für den heutigen Tag ausgeben. Auch mit Hinblick darauf, dass es derlei Möglichkeiten, etwas einzukaufen bis zum Ende der Tour nicht mehr geben würde. Eigentlich wollten sie in diesem Moment genau das nachholen, was sie sich eh schon für den Tag davor vorgenommen hatten: die letze Lagermöglichkeit vor dem Dämmeritzsee zu erreichen und die restliche Zeit dort zu „chillen“, wie sie das nennen. Das war ohnehin etwas, was sie partout verhindern wollten: Mit dem Floss über den See zu fahren. Es muss so was wie eine Horrorvorstellung für sie gewesen sein, was ich durchaus nachvollziehen konnte, habe ich doch gesehen, wie sie sich auf dem Fluss, der ja nunmal nur in eine Richtung strömt, schon gequält haben mitunter. Das Ziel war also klar: Die kleine nette Stelle kurz vor Erkner, mit exklusivem Anlegeplatz und einer Affenschaukel auf dem gegenüberliegenden Ufer. Von dort wären es dann höchstens vier Kilometer bis zum Bahnhof, die ja zu Fuss zurückgelegt werden sollten. Sollte diese nicht durch jemand besetzt sein, wäre es zumindest das wegliche Ende der Tour.
Die Ausbeute, die sie heute noch an Essen machten, ohne dafür zu bezahlen, war beachtlich. Selbst 15 frische Brötchen und ein noch warmes Brot wurden uns gegönnt. Morgen würde es ein letztes, leckeres Frühstück geben. In der Nacht hatten sich 150 Meter neben uns noch weitere Wasserwanderer zur Nacht gebettet. Sie lagen direkt unter der Brücke, was schonmal ein gewisses Abstumpfungspotenzial voraussetzt. Ich meine, neben der Brücke war es schon unangenehm, aber direkt unter ihr stank es aus allen Mauerporen nach Pisse, aber ich schweife ab.
Wir brauchten wieder eine ganze Weile, um alles was wir so bei hatten, auf die Flösse und das Kanu zu packen. Wir hatten Zeit. Es wäre nur noch eine Etappe zu fahren. Dort würde man am nächsten Morgen das Floss zerlegen und sich genüsslich auf den Heimweg machen. Es liegen maximal noch zwei Stunden Weg vor uns. Einige, auch wir, kennen diese Stelle und sie müsste schon bald auf der Linken des Horizontes auftauchen. Alle sind weitestgehend entspannt, sie haben es fast geschafft und das macht alle etwas lockerer. Die Stimmung auf dem Floss war in der gesamten Woche nicht so easy. Wir, als Betreuer, sind froh darüber, dass sie sich den Weg über den Fluss ersparen wollen, auch wenn wir das ursprünglich mal als eigentliches Ziel erfasst hatten. Wir wollen sie alle mit einem guten Gefühl nach Hause schicken. Genau in dieser Gemütsstimmung befindet sich, die gesamte Gruppe im Moment. Das soll so bleiben. Wenn wir nun noch über den See fahren würden, wäre das alles im Arsch, denn einer derartigen Extremsituation waren sie bisher nicht ausgesetzt und haben dennoch auch so schon allerhand Konfliktpotenzial entwickelt und das mitunter auch rausgelassen.
Nach 90 Minuten erreichen wir den letzten Lagerplatz. Ein gemeinschaftliches Aufatmen geht durch die Gruppe. Hier ist es sehr nett. Wir sind alleine, drüben wartet ein Affenschaukel darauf, dass sich jemand an sie dranhängt und der Lagerplatz ist im allgemeinen sehr idyllisch. Die Kids gehen baden, sammeln Feuerholz und „chillen“, wie sie das nennen. Wir brauchen heute ein sehr frühes Feuer. Es wird heute auf jeden Fall noch was vom Himmel fallen. Das sollte zwar die letzten Tage auch schon der Fall sein, aber nun kann man den Regen schon fast riechen. Deshalb erstmal Feuer an. Wenn das dann eine Weile brennt, muss es schon übermäßig stark regnen, um es zu löschen.Nebenbei beginnen die Jungs ihre Kräfte zu messen. Im Nahkampf. Ringen, Judo und alles verwandte ist erlaubt. Wir stellen gemeinsam Regeln auf und wer nicht mitmachen möchte, kann sich auch gerne da rausnehmen. Am Ende allerdings hat sich jeder mit jedem gebalgt. Es ist kurios, denn diese Sache stellt die über die Woche gefestigte Gruppenhierachie auf den Kopf. Es wird deutlich, dass eben nicht die Lautesten auch gleich die Stärksten sein müssen, auch wenn diese das bisher gedacht hatten. Da wir ganz bewusst nur Teilnehmer männlichen Geschlechts dabei hatten, sollte so eine beobachtete Balgerei auch dabei sein. Das gehört einfach dazu.
Der Himmel verdunkelt sich zunehmends und wir werden werden heute auf keinen Fall drum herum kommen, ein Biwak zu bauen. Es wird regnen. Ganz sicher. Also spannen wir Betreuer unser 5 x 3,5 Meter großes Tarp und wissen um eine trockene Nacht. Die Kids tuen es uns nach und bauen sich ein eigenes Biwak. Allerdings nicht ganz so, wie man es machen sollte, wie sich später herausstellen wird. Es gibt heute Abend Couscous mit Gemüse, dessen Zubereitung sich endlos in die Länge zieht, da die Kids nur minder motiviert sind, etwas zu essen. Dennoch wird es irgendwann fertig und wir können unser letztes Abendmahl am Feuer einnehmen. Kurz darauf beginnt es zu regnen. Kategorie: Schwacher Landregen. Da kann nicht viel passieren, denken wir, sitzen trotz dessen noch eine Weile am Feuer und kriechen dann in die Schlafsäcke im trockenen Biwak. Ich kann nicht so recht einschlafen. Der Boden ist furchtbar uneben und ich rolle immer wieder von einem kleinen Hügel, auf dem meine Isomatte eigentlich für einen geruhsamen Schlaf sorgen sollte. Tut sie aber nicht, die Sau, die blöde.
Der Regen wird zunehmend stärker. Ich checke, ob irgendwo von unten Wasser ins Tarp läuft und stelle beruhigt fest, dass dem nicht so ist. Ich lege mich hin und warte darauf, dass der Schlaf zuschlägt. Tut er aber nicht. Gegen 3:00 Uhr morgens bemerke ich im Zelt der Kids eine enorme Aufregung. Mir deucht, dass Zelt steht unter Wasser, was sich nach dem Aufstehen und Nachsehen auch leider bewahrheitet. Mir ist hier im Dunkel nicht ganz ersichtlich, warum denn die Planen, die sie als Unterlage benutzt haben, bis zu Zehn Zentimeter Wasser auf sich lagern. Einige Schlafsäcke sind völlig durchnässt und wenige Klamotten auch. Nun muss es schnell gehen. Alle müssen aus den nassen Penntüten und in trockene Klamotten. Das Tarp muss neu gespannt und gerichtet werden, was natürlich bedeutet, dass man zwangsläufig nass wird. Nun müssen wohl oder übel elf Mann unter dem 17,5 m2 großen Tarp schlafen. Gruppenkuscheln quasi, wo man seinen körperlichen Freiheitsbereich um einiges einschränken muss, was nicht unbedingt zu meinen Stärken zählt, wie ich zugeben muss. Eine halbe Stunde später liegen somit alle irgendwie in dem Tarp. Kreuz und quer, eng an einander gedrückt, aber zumindest trocken. Ich verabschiede mich von dem Gedanken, hier auch nur annähernd so etwas wie Schlaf zu bekommen. Aber ich täusche mich. Nach einer weiteren halben Stunde, sind alle still und der Schlaf kommt über uns.
Tag 6: Die Nacht war mehr als kurz. Nach bereits drei Stunden, versuchen wir, die Betreuer, gute Miene zum viel zu frühen Spiel zu machen und quälen uns aus den Schlafsäcken. Espresso.Nachdem wir einmal um das Zelt der Kids gelaufen sind, um heraus zu finden, warum denn nun der Regen ins Zelt lief, wird relativ schnell deutlich, dass die Erbauer zwar Wert auf die Optik, jedoch nicht auf die Schutzfunktion gelegt haben. Sie haben die Planen, die sie sich unterlegten soweit nach aussen gezogen, dass das vom Dach ablaufende Wasser direkt darauf niederprasselte und somit freie Bahn ins Zelt hatte. Dazu kommt, dass sie sich in eine Kuhle gelegt hatten, was alle weiteren Fragen ungestellt beantworteten dürfte. Nun gut, auch das gehört dazu. Nun geht es nur noch daran, die Klamotten, ebenso wie die Schlafsäcke, so trocken wie möglich zu bekommen. Der Regen hat aufgehört und wir hängen alles in die Bäume.
Um 8:00 Uhr ist Weckzeit. Es gibt einen Zeitplan zu erfüllen. Das Floss muss bis um 11:00 Uhr abgebaut werden, dann kommt ein bestellter Fahrer, der das alles aufladen soll. Bis dahin sollten alle gefrühstückt haben, ihre Sachen gepackt und das, erst im Morgenlicht ersichtliche Schlachtfeld, aufgeräumt haben. Das wird zeitlich knapp. Die immer noch frischen Brötchen vom Vortag schmecken bestens und sind im Nu verzehrt. Danach geht es dann ans Floss. Auch das ist zügig auseinander gebaut und soweit sortiert, so das es ohne weiteres schnell im Transporter verstaut sein wird. Nun geht es ans Packen der Klamotten. Hierbei kommt es zu einem äusserst unschönen Zwischenfall, der so ziemlich den absoluten Tiefpunkt der gesamten Fahrt darstellt. Es ärgert mich sehr, denn ich hatte bis heute Morgen das angestrebte Ziel, alle Teilnehmer mit einem guten Gefühl nach Hause schicken zu können, als erfüllt betrachtet. Es macht mich sauer, dass dem nun nicht mehr so sein wird. Ein wirklich unschönes Ende, was der eigentlich zusammengewachsenen Gruppe die komplette Legitimation nimmt und sie splittert.
Nachdem das Material komplett in dem Transporter verstaut ist, macht sich die Gruppe gegen 12:30 Uhr auf den Fußweg zum Bahnhof Erkner. Da kommen alle gegen 13:40 Uhr an und warten auf den Zug. Das war es. „Flossimo Extremo“ endet hier.
Fazit: Es war nun die dritte Tour dieser Art. Die Erste fand vor zwei Jahren mit dem Fahrrad statt, die Zweite dann im letzten Jahr mit dem Kanu und diese nun mit dem Floss statt. Die Grundlagen, was Essen und Trinken waren immer die Selben. Die Teilnehmer variierten immer. Fand die Erste noch geschlechtergemischt statt, waren die letzten Beiden auf die Teilnahme von jungen Männern konzipiert, was auch durchaus Sinn macht. Bis eben auf den letzten tag, war es auch eine sehr schöne Tour, auf der die mentalen Stimmungen der Teilnehmer auf und nieder gingen. Genau das aber gehört dazu. Das soll so sein. Das soziale Gefüge in einer Gruppe organisieren zu lernen ist Hauptaspekt, bei dieser ganzen Angelegenheit. Jeder der Teilnehmer hat davon positive Erfahrungen mit nach Hause genommen, aber auch negative. Das gehört auch zum Lernprozess. Weg von der Bequemlichkeit, an die sich so viele junge Menschen gewöhnt haben, hin zur Selbstversorgung, ohne den von Mutti gefüllten Kühlschrank und die Gemütlichkeit der elterlichen Couch. Das hat gut geklappt, auch in diesem Jahr. Auch dann, wenn wir als Betreuer, bestimmte Dinge anders bzw. besser hätten machen können, oder sollen. Aber auch das ist menschlich. Auch wir gehen mit jeder dieser Tour auf Erfahrungssammlung und lernen dazu. Sowohl pädagogisch als auch soziologisch betrachtet, ist das das Größte, was einem passieren kann. Das Verhalten von einer Gruppe zu studieren, die sich eine Woche lang auf 8 m2 organisieren muss und über ihre kommunikativen Fähigkeiten aneinander wachsen muss, um dass alles unbeschadet zu überstehen. Das wohl größte, was ich danach immer mitnehmen kann, ist die Unwichtigkeit der Zeit. Diese spielt gar keine Rolle. Es gibt nur hell oder dunkel. Ich genieße die Langsamkeit des Seins durch und durch. Wenn man dann wieder so ankommt im eigentlichen Leben, fällt es schwer, sich der Geschwindigkeit des Lebens wieder anzupassen. Ja, es ist, um genauer zu sein, der absolute Horror, was wir uns hier jeden Tag an Unwichtigkeiten antuen, die wir uns, aus welchem Grund auch immer, irgendwann mal als Prioritäten gesetzt haben. Anderseits sind genau diese, nach spätestens drei Tagen, wieder genau so wichtig, wie sie es davor auch waren.
Der Plan für das nächste Jahr steht: 100 Kilometer. 50 mit dem Kanu, 25 mit dem Rad und weitere 25 zu Fuss. Alles was es als Zielvorgabe geben wird, sind GPS – Koordinaten und ein GPS – Gerät. Die Grundlagen, was Essen und Trinken betrifft, werden die selben sein.