Sein Name war Markus, er war kleiner als die anderen, auch irgendwie dünner und überhaupt machte er den Eindruck, dass das hier nicht seine Verananstalltung werden sollte – am ersten Tag schon. Wir waren im Ferienlager, so wie jedes Jahr im Sommer, seitdem wir sieben Jahre alt waren. Am Anfang hatte jeder so seine Probleme mit dem Heimweh, aber über die Jahre verlor sich das und man war eigentlich ganz froh, auch mal ohne seine Eltern ein paar Sommertage für sich und gleichaltrige Jungs zu haben, die von überall aus der Republik kamen. Außerdem waren die Betreuerinnen immer erste Sahne anzuschauen, wenn sie sich im selben 12-Mann Zelt umzogen, wie wir Jungs, wenn auch hinter Vorhängen, aber da gab es ja Mittel und Wege.
Er war das erste Mal so lange von zu Hause weg und hatte schon auf der Hinfahrt im Bus großes Heimweh, er saß eine Reihe hinter mir und weinte ununterbrochen. Ich versuchte ihn zu trösten, sagte ihm, dass ich das Gefühl kenne, das sich das nach 1-2 Tagen wieder legen würde und das man dort verdammt viel Spass haben könne, so ohne die Eltern. Er hörte vorerst auf zu weinen, aber sein Gefühl, unbedingt wieder nach Hause zu wollen, blieb ganz offensichtlich bestehen. Er tat mir leid. So leid, dass ich versuchte, mit ihm in eine Gruppe und somit in das selbe Zelt zu kommen. Ich dachte, den kriege ich schon durch irgendwie. Ich mochte ihn. Er kam aus dem Berliner Umland, genau wie ich, nur aus dem nördlichen Teil und unsere Väter hatten die selben Posten. Das verband uns. Irgendwie gelang es mir dann auch, uns in eine Gruppe zu steuern.
In den großen Armeezelten standen jeweils sechs Doppelstockbetten und wir teilten uns eines davon. Ich bot ihm sogar an, sich auszusuchen, ob er oben oder lieber unten schlafen wollte, was man eigentlich nie(!) tat, da man nie wusste, wer von den Jungs ins Bett nässen würde. Wenn die über einem schliefen, konnte es unangenehm werden. Man schlief immer oben und kämpfte bisweilen auch mit den Fäusten um diesen Schlafplatz. Er entschied sich für unten, was mich irgendwie beruhigte. Er hingegen beruhigte sich nicht. Bis auf die Zeit in der wir alle gemeinschaftlich aßen, weinte er ununterbrochen. Es war furchtbar traurig, ihm dabei zusehen zu müssen, ohne wirklich etwas für ihn tun zu können. Ein Großteil derjenigen, die mit in unserem Zelt lagen, konnten ihr Unverständniss zwar nicht verbergen, blieben aber höflich. Er wurde nicht gehänselt und auch sonst versuchte man, es für ihn nicht noch schwerer zu machen. Irgendwie mochten ihn alle, bis auf den Umstand, dass er natürlich mehr Aufmerksamkeit von der Betreuerin bekam, als der Rest der Gruppe, aber das lies man ihm durchgehen.
Die erste Nacht muss nicht nur für ihn eine Katastrophe gewesen sein. Er schluchzte pausenlos in sein Kissen und in sein Kuscheltier, was zu verstecken ihm nicht gelang. Niemand im Zelt konnte in dieser Nacht schlafen und so versuchten wir, eine Strategie für ihn zu entwickeln, die dafür sorgen konnte, dass er wieder nach Hause käme – so bald wie möglich. Nichts wollte er mehr. Ich brachte die Idee ein, dass er den Inhalt eines Pfefferstreuers schlucken könnte. Das macht den Hals extrem rot und sieht derbe nach Halsschmerzen aus. Den Trick kannte ich von meinem Bruder, aus deren Klasse sich jemand auf diese Art um das Wehrlager zu drücken versucht hatte. Das dieser Versuch schief ging, und der Tüp einen Riesenärger bekam, verschwieg ich lieber. Ich dachte, die wären bei einem Jungen nicht so hart und das geht irgendwie beim Arzt durch, so das er nach Hause könnte. Der Vorschlag kam auch aufgrund mangelnder Alternativen in der Gruppe gut an und Markus entschloss sich dazu, das ganze am nächsten Morgen in die Tat umzusetzen. So saßen wir dann morgens im Essensaal und er schüttete sich unbemerkt den Inhalt eines Pfefferstreuers, der nicht voll war, in den Handballen, um das Zeug später zu schlucken. Nachspülen tat er mit dem ekelhaften Tee, der immer sauer roch. Wir verzogen uns ins Zelt und warten eine geraume Zeit, um zu sehen, ob sich was änderte. Ihm ging es nach einer halben Stunde ziemlich dreckig. Ihm war schlecht, er hatte glasige Augen und einen beängstigend roten Hals. Also ging er zum Arzt in der Hoffnung, dass er nun alsbald die Rückreise antreten könne.
Als er zurück kam, war er sehr aufgelöst und weinte so sehr, dass ihm das Sprechen schwerfiel. Der Arzt meinte, dass es nur eine kleine Erkältung sei und das die schnell vorbei gehen würde. Der Versuch hatte also nicht zum gewünschten Erfolg geführt, was alle ein wenig mitnahm. Es musste eine neue Idee her, die sicher dazu führen würde, dass er nach Hause könne. Er fragte, ob jemand diesen Film mit Sylvester Stallone kennen würde, den in dem er sich einen Arm brechen lies, um aus dem Nazi-Lager zu kommen. Ja, jeder kannte den Film, es war „Escape to Victory„ und ich dachte erst, dass er das, was er da sagte, nicht ernst meinen könnte. Er könne sich doch nicht seinen Arm brechen lassen, nur um 10 Tage vor uns nach Hause zu fahren. Er meinte, dass dies der sicherste Weg währe und er das unbedingt wolle, wie auch immer. Wenn ihm keiner helfen wollen würde, würde er das eben allein durchziehen. Die Hälfte der Gruppe stieg aus, das war ihnen doch zu viel der Solidarität. Er band sich mit einem Handtuch ein Stück Seife auf den Unterarm, weil es die Knochen weicher machen würde, wie er sagte, und dann nicht ganz so sehr schmerzen würde. Ich hoffte, dass er sich das bis zum nächsten Morgen überlegen würde und konnte in dieser Nacht wieder nicht schlafen. Nicht weil er wieder weinte und die ganze Nacht schluchzte, sondern weil ich fand, dass das ein absolutes Wahnsinnsvorhaben sei, dass in keiner Relation zur Sache stand.
Am nächsten Morgen gingen wir essen und man entschied, die Sache nach dem Frühstück durchzuziehen. Keiner sagte was und zwei weitere Jungs stiegen aus. Ich konnte das nicht, ich wollte ihm irgendwie behilflich sein, auch wenn ich nicht auf seinen Arm springen würde! Dafür aber hatte sich der gruppenstärkste Junge angemeldet. Ich glaube, dem ging es nicht primär darum, Markus zu helfen, viel mehr wollte er mal sehen, wie das so ist, einen Arm zu brechen. Nachdem Frühstück gingen wir mit vier Jungs ins Zelt, räumten die Matraze von seinem Bett, nahmen eine Latte aus dem Lattenrost und er legte seinen Arm über diese Lücke. Ich gab an, draußen nachzusehen, ob denn nicht jemand kommen würde.
Ich ging vor das Zelt, aus den Boxen, die im gesamten Lager montiert waren, plärrte „Tarzan Boy„. Ich konnte niemanden sehen, gab nach drinnen „grünes Licht“ und konzentrierte mich auf „Tarzan Boy“. Dann hörte ich es krachen und kurz darauf hörte ich einen unheimlich klingenden und lauten Schrei.
Noch am selben Tag wurde Markus von seinen Eltern abgeholt. Ich habe nie wieder von ihm gehört.