Als wir damals 1990 eines Tages, ein Jahr nachdem die Mauer gefallen war, in die von uns gewählte Schule gekommen waren und dort keiner so genau wusste, was genau diese neue „Freiheit“ denn sein sollte, reizten wir den Versuch, das herauszufinden, voll aus. Natürlich.
In der DDR gab es keine Schulen, wie der des uns heute völlig vertrautem Schema der Grund- und Oberschule. Wir kamen mit sechs Jahren auf eine Polytechnische Schule und blieben dann dort bis zum Abschluss der 10. Klasse. Bis dahin erstmal alle. Mit Fahnenappell, Klassenwimpel, Gruppenrat und Freundschaftspionierleiterin. Für einige wenige ging es dann noch weiter auf eine Erweiterte allgemeinbildende polytechnische Oberschule (EOS). Die Bezeichnung Gymnasium war in der DDR nicht üblich. Der Besuch einer EOS war nur wenigen vorbehalten. Die Eltern mussten politisch gefestigt sein und sollten im besten Fall nicht aus kirchlichen Kreisen kommen. Das war dann schon immer ein wenig problematisch.
Wir gingen einfach zur Schule und irgendwann kamen dann halt irgendwelche alten Männer in Mänteln und erklärten uns, wie unsere, für jeden individuell, Zukunft am besten aussehen könnte. Sören, Thomas und Ronny sollten wohl am besten für den Rest ihres gerade noch jungen Lebens zur Armee gehen. NVA ginge, die Grenztruppen auch. Alternativ dazu Sport. Sören spielte Tischtennis – und das verdammt gut. Thomas war Fußballer – und der Beste im Sturm. Ronny stand für den „großen BSG“ beim Handball im Tor und wurde damit Bezirksmeister. Schule fertigmachen, irgendwas lernen, was dich dann für den Rest deines Lebens festgenagelt hätte. Oder zur Armee gehen. Oder sich für den Sport entscheiden, was im Osten zwangsläufig bedeutet hätte, sich über Umwege für die Armee zu entscheiden. Weil es nirgendwo anders so viel Förderung für Sport gab, als eben bei der Armee. Schach wäre noch eine Option gewesen. Aber auch die hätte bei irgendwas mit Armee geendet.
Wenn das alles sportlich nicht drin war, dann eben Ausbildung zum „Facharbeiter“. In irgendeinem VEB. Fürs Leben lang. Oder halt Soldat.
Die Idee, dass die Mauer irgendwann mal fallen würde, gab es für mich in jungen Jahren nicht. Natürlich nicht. Die stand bis dahin ja mein Leben lang. Ich war verdammt gut im Tor. Aber ich war auch verdammt gut im Chor. Der einzige Junge, frische 13, nur Mädels um sich. Und dann die Frage, wohin es denn nun gehen sollte. Ich wollte Panzerkommandat werden. Wirklich. Der einfachste Weg. Mein Alter war Feldwebel und hätte da sicher irgendwas drehen können. „Vitamin B“ und so. Das Ding mit dem Sport hatte sich recht schnell erledigt. Vier mal die Woche Training. Am Wochenende Punkt- und wenn keine Saison war, Testspiele. In den Ferien Trainingslager fernab der Familie. Das war schon fast Arbeit und so hatte ich keine Lust, mich beim ASV Frankfurt zum Leistungssportler ausbilden zu lassen. Schon damals fast alles gewonnen und ob dessen dennoch beide Knie komplett im Arsch.
Viel lieber wäre ich damals zum Thomanerchor gegangen, zu dem mich meine Musiklehrerin schicken wollte, was meine Mutter untersagte. Weil: „Wer Mathe nicht richtig kann, muss es auch mit dem Singen nicht versuchen. Singen hat keine Zukunft, Junge!“ Okay und danke. Womöglich wäre ich dann einer der Prinzen geworden und das konnte ja keiner wollen.
Dann fiel die Mauer. Alles war anders. Alles war neu. Alles zurück auf Start.
Es ging auf einmal um so was wie „weiterführende Schulen“. Von einem Jahr auf das nächste. Wovon wir damals alle keine Ahnung hatten. „Abitur? Fürn Arsch! Was soll das schon bringen?“ Lass uns mal lieber dort auf die Schule gehen, wo die besten Kumpels der Stadt auf die Schule gehen würden. Von etwaiger Zukunft und etwaigen Perspektiven hatten wir damals eh keine Ahnung. Primär sollte jeder Tag aufs Neue Spaß machen. Also sammelten sich die damals Beklopptesten auf der vermeintlich schlecht gewähltesten Schule der Stadt. Der Ruf der selbigen ist bis heute nicht gänzlich rehabilitiert. Ich bilde mir ein, dass wir dafür bis heute nicht ganz unverantwortlich sind. Gesamtschule.
Die Lehrer dort setzten sich aus denen zusammen, die im Osten irgendwie politisch „Dreck“ am Stecken hatten, und jenen, die in Westberlin keiner mehr auf Kinder loslassen wollte. Aus dem Osten welche, die zweifelsohne Stasivergangenheiten aufzuarbeiten hatten. Aus dem Westen, Altlinke, die mit ihrem Marxismus oder gar Kommunismus an dortigen Schulen schon länger Probleme hatten. Nun konnte man sie von dort aus auch einfach mal ganz offiziell in den Osten abschieben.
Und so trafen wir uns dort alle. Manche jung, manche alt. Die Alten satt, die Jungen verdammt hungrig. Alle die, die keine Ahnung hatten, wie genau es für jeden von uns nun weitergehen würde. Wir versuchten das Beste daraus zu machen. Die Lehrer, die es noch über die ein oder andere „Überprüfung“ schaffen mussten. Oder jene, die eh nur noch auf ihre Rente warteten. Wir, die Schüler, denen nichts wichtiger war, als herauszufinden, was genau denn diese neu gewonnene „Freiheit“ für uns bereithalten würde. Wir als Schüler haben alles übertrieben. Wirklich alles. Ich hätte damals kein Lehrer von uns sein wollen. Aber es war halt schon wichtig, herauszufinden, wo genau diese neue Freiheit ihre Grenzen haben sollte. Unsere Schule hat das zu erfahren, nicht geschafft. Dafür haben wir damals viel geschafft. Die Grenzen für dortige Lehrer damals zu zeichnen, zum Beispiel.
Wenn wir dann mal Freistunde hatten, brachte Kramer VHS-Kassetten mit, die wir dann aus dem „Medienschrank“ heraus der Klasse vorführen konnten. Ohne Lehrer. Die hatten ja auch keine Ahnung. Und so kam es, dass ich Chucky – die Mörderpuppe zum allerersten Mal in einer Freistunde in der Schule sah. Irgendwann gegen 10:30 Uhr. Die Lehrer wussten noch weniger darüber als wir selber und waren froh, wenn ihnen mal keiner gesellschaftlich zukunftsorientiert auf den Sack ging.
Danach warfen wir das komplette Klassenzimmer inklusive des Lehrertischs aus den Fenstern. Wissen wollend, wie weit diese neue Freiheit gehen darf. Es geschah: nichts. Keine Konsequenzen.
Ein paar Wochen später bekamen alle Schüler der Schule in dem Viertel tagsüber Hausverbot in dem benachbarten Rewe. Wir hatten das mit der neuen Freiheit dort wohl doch etwas überreizt – und der Supermarkt reagierte. Ganz anders als die Schule. Aber das ist nochmal eine andere Geschichte.
Das alles fiel mir gerade ein, als ich den Trailer für das Remake von Chucky sah. Chucky hat so etwas nie erleben können. Die Pfeife!
Die Zeit vom Sommer 1989 bis circa 1993 zählen zu den verrücktesten und besten Jahre meines Lebens. Es waren Anfang Tage, Wochen, Monate und am Ende ein paar wenige Jahre der für mich gefühlt absoluten Freiheit und der Anarchie.
Nun jährt sich die deutsche Wiedervereinigung, von der ich als Kind nicht mal zu träumen wagte, zum 25. Mal. Heute denke ich, ich hätte manches, gerade in den ersten Jahren, lieber ganz anders gehabt – wir hätten einen ganz eigenen Weg gehen können, wenn die damals Wahlberechtigten nicht primär an das Geld gedacht hätten, mit dem gerade die Konservativen aus dem Westen kräftig gewunken hat.
Dennoch weiß ich, dass ich das Leben, das ich heute führe, zumindest ohne den Fall der Mauer niemals nicht hätte leben können. Und mir wären die verrücktesten und besten Jahre meines Leben vorenthalten geblieben. Ich schrieb in den letzten 10 Jahren hier des Öfteren darüber.
„Keine funktionierende Bürokratie, kein Ordnungsamt, dafür offene Grenzen: 16 Millionen DDR-Bürgern steht 1989 über Nacht die Welt offen, alles scheint möglich.
Mit dem Mauerfall am 9. November 1989 beginnt in der DDR ein Jahr zwischen Aufbruchsstimmung und Anarchie. Illegale Clubs, besetzte Wohnungen, eine überforderte Bürokratie und Medien, die erstmals offen berichten: Die Modrow-Regierung hat das Land nicht im Griff.
Bis in den Sommer 1990 hinein gibt es keine funktionierende Steuerverwaltung, kein Gewerbeamt. Die öffentliche Verwaltung liegt danieder. Betriebe werden ohne Genehmigung gegründet, so manches bestehende Kombinat besetzt. Die Kombinatsdirektoren werden kurzerhand vor die Tür gesetzt.
Doch die fröhliche Anarchie hat ihre Schattenseiten. Bald marodieren gewiefte Abzocker aus dem Westen durchs Land. Sie verkaufen den Ostdeutschen unnötige Versicherungen, überteuerten Ramsch oder fordern in erpresserischer Manier gleich ganze Häuser oder Grundstücke zurück. Dann machen die ersten Großbetriebe dicht. Zwischen 1989 und 1991 verlieren mehr als zweieinhalb Millionen Menschen ihre Arbeit.
Was euphorisch begann, schlägt in Frust um – und beglückt bis heute nicht jeden. Ein Rückblick auf das letzte Jahr der DDR: Was hätte anders laufen können?“
Ich bekomme auch heute noch Gänsehaut wenn ich Aufnahmen wie diese sehe. Davon wird es in diesem Jahr hier noch einige geben, denke ich.
Als 20-Jährige startete Katrin Hattenhauer gemeinsam mit ihren Mitstreitern die Proteste vom 4. September 1989, riskierte einiges und trug die sich daraus für sie ergebenen Konsequenzen. SpOns einestages hat mir ihr über diese Tage gesprochen.
Schon am 10. Juni 1989 forderten Katrin Hattenhauer und andere Protagonisten des friedlichen Umsturzes das DDR-Regime gezielt heraus: mit der Organisation des ersten Straßenmusikfestivals in Leipzig. „Das war die Probe zur Revolution“, sagt sie.
Überall in der Stadt musizierten junge Leute – der ohnmächtige Staat reagierte mit 84 Festnahmen. Auch Katrin Hattenhauer wurde „zugeführt“, was sie nicht davon abhielt, am 4. September 1989 noch einen Schritt weiterzugehen. „Wir mussten uns dieses Land zurückerobern“, sagt sie.
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