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Schlagwort: Biography

Doku über Laurent Garnier: Off the Record

Ich kann mich an zwei Nächte meines Lebens erinnern, in denen Laurent Garnier mich unsagbar glücklich machte. Eine im Oktober 1994, wo er mich beim Universe The Tribal Gathering in München Riem durch die Nacht trug, eine im alten Berliner Matrix, das, wenn es auch nur kurz existierte, bis heute zu meinen allzeit liebsten Clubs gehört. Ich bin mir sicher, Herrn Garnier deutlich öfter erlebt zu haben, aber die 90er waren wild und manches davon hat es nicht bis ins Langzeitgedächtnis geschafft. Jedenfalls ein für mich ganz Großer der elektronischen Tanzmusik, dessen Produktionen ich über all die Jahre immer wieder mal gehört und auch gespielt habe.

Arte hat jetzt eine Doku über das Leben und das Schaffen des sympathischen Franzosen, der sich langsam aus dem Show-Zirkus zurückziehen will. Guck-Empfehlung!

„Laurent Garnier: Off the Record“ ist ein persönliches und unterhaltsames Porträt des weltberühmten DJs und Technoproduzenten. Gleichzeitig erzählt die Dokumentation die Geschichte der elektronischen Musik, die im späten 20. Jahrhundert tausende Menschen in Clubs und auf Ravepartys rund um den Erdball vereinte.
Laurent Garnier war ein Wegbereiter der elektronischen Musik, der letzten musikalischen Revolution des 20. Jahrhunderts. Der junge Regisseur Gabin Rivoire ging von 2017 bis 2019 mit dem französischen DJ auf Welttournee und begleitete ihn bei seinen Auftritten von New York bis Tokio. Das intime Porträt schildert die 30-jährige Karriere des DJs: seine Anfänge im legendären „The Haçienda“ in Manchester im Jahr 1987, die rasante Eroberung der größten europäischen Clubs und schließlich seine legendären Auftritte im „Rex Club“ in Paris. Laurent Garnier verkehrte in der internationalen Technoszene und arbeitete mit Stars wie Carl Cox, Richie Hawtin, Sven Väth und Jeff Mills zusammen, die ebenfalls im Film vorkommen.

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Doku: Angela Merkel – Im Lauf der Zeit

Ich bin weit davon entfernt Fanboy zu sein und finde, dass es viele Gründe gibt, Angela Merkel für ihre Arbeit als Bundeskanzlerin zu kritisieren, keine Frage. Ich denke aber, dass das Land 2015 wahrscheinlich anders regiert worden wäre, wenn sie da nicht Kanzlerin gewesen wäre. Und ich finde, dass sie in diesem Kontext gegen große Widerstände sehr vieles richtig gemacht und ein großes Maß an Humanität gezeigt hat, die ich damals für zwingend notwendig empfand. Davor habe ich großen Respekt.

Der renommierte Dokumentarfilmer Torsten Körner begibt sich in seinem Film über Angela Merkel auf eine biografisch-politische Spurensuche, die von Templin bis Washington reicht, vom Mauerbau bis zum Mauerfall, von der Bonner- bis zur Berliner Republik und darüber hinaus. Die Kanzlerin hat sich viel Zeit genommen für dieses weitgespannte Projekt, sie stand Torsten Körner exklusiv für zwei Interviews zur Verfügung. Dabei werden grundlegende Fragen aufgeworfen: War die Kanzlerin eine Stabilitätsgarantin in stürmischen Zeiten oder verantwortet sie politische Stagnation?

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Under Pressure

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(Sybmolfoto unter CC von Mueritz)

Es war unser letzter gemeinsamer Sommer. Wir hatten alle gerade die 10te Klasse hinter uns, nach den Ferien würde jeder seine ganz eigenen alltäglichen Wege gehen. Die Zeugnisse waren bei fast allen mäßig bis dürftig – für fast alle reichte es da nur für eine Ausbildung auf dem Bau. Aber immer noch besser als nichts und immerhin nicht zum Straßenbau. Das gemeinsame nachmittägliche Rumhängen auf dem Schulhof mit den billigen 0,33er Schultheiß Blasen würde wegfallen und überhaupt würde nach diesem Sommer alles ganz anders werden.

Es war heiß. Viel zu heiß, um fünf, sechs Tage in Zelten an einem kleinen See in Teltow-Fläming zu verbringen. Wir taten es trotzdem. Natürlich. Wir soffen Bacardi mit pisswarmer River-Cola, rauchten mehr als unsere noch jungen und dennoch schon schwarzen Lungen vertragen konnten, spielten Karten und nachts angelten wir. Allerdings eher nur so alibimäßig – man konnte ja nicht nur Saufen, was wir natürlich trotzdem taten. Wenn der Bacardi alle und der schon geschnittene Käse am Tage in der Sonne mal wieder zu einem Klumpen verschmolzen war, liefen wir morgens vier Kilometer, um in dem kleinen Tante Emma Laden im nächsten Kaff Nachschub zu holen. Bacardi. Der Käse war dann nicht mehr wichtig.

Wir hatten einen riesigen Ghettoblaster dabei, den wir – ganz Ostler – „Doppelkassettenrekorder“ nannten. Und mindestens 34,7 Kilo Batterien für das Ding. Tagsüber hassten uns alle badenden Familien dafür, aber wir waren jung und das war unser letzter gemeinsamer Sommer. Die konnten uns also alle mal. Und das ordentlich. Mittelfinger hoch. Nachts waren wir immer allein und ballerten drei Platten über den dann ganz ruhig vor uns liegenden See. Erasures „Chorus“, 2 Live Crews‘ „Banned in the USA“ und „Hot Space“ von Queen. Die eigentlich nur wegen einem Lied, „Under Pressure“. Ein paar Jahre vorher hatte Vanilla Ice dieses eine Sample davon benutzt, dafür liebten ihn alle. Wir aber wussten, wo das im Original herkam und hassten alle, die davon keine Ahnung hatten. Am Ende lief dann meistens nur dieses Lied, „Under Pressure“.

Es lief morgens beim ersten Bacardi-Cola, mittags, wenn der See langsam aber stetig von den Familien umlagert wurde, abends als mein Bruder dieses Mädchen mitbrachte, das mich besuchen wollte. Es lief, als wir beiden im Zelt dann so taten, als würden wir viel mehr machen als uns nur zu unterhalten, was dafür sorgte, dass wir danach für alle „zusammen“ waren. Tatsächlich sollte es noch gut ein halbes Jahr dauern, bis wir das auch so sahen. Wir sehen das bis heute so. Und wenn wir dann nachts in den benebelten Schlaf der trunkenen Jugend fielen, lief „Under Pressure“ natürlich auch. So lange, bis die Batterien mal wieder den Geist aufgaben. Am Ende hatten wir ein Tape, dass wir damals – ganz Ostler – „Kassette“ nannten, auf dem nur dieses eine Lied war.

Es war unser letzter gemeinsamer Sommer. Und auch wenn keiner sich in diesem Bewusstsein von seinen Eltern dort hinfahren lies, wussten wir es irgendwie still und heimlich alle, als uns die Eltern nach diesen Tagen wieder abholten. Es blieb dabei. Nach diesem Sommer gingen wir alle irgendwelchen Ausbildungen auf allen möglichen Baustellen Berlins nach und verloren uns aus den Augen. Manche für immer.

Und jetzt sitze ich hier in der Küche, backe einen Mohn-Kirsch-Käse-Marzipan-Kuchen, während das Mädchen, das mich damals besuchte und mit dem ich im Zelt so tat, als ob, an der Nähmaschine Hoodies für unsere Kinder näht. Dann höre ich wie aus dem Nichts „Under Pressure“ und muss an damals denken. Und an den Sommer, der mir wie jedes Jahr so fehlt. Vielleicht fahren wir im nächsten einfach mal für eine Nacht an diesen See, trinken Barcardi-Cola und hören dort die ganze Nacht „Under Pressure“. Der alten Zeiten wegen und weil dieser eine Sommer für uns gar nicht der letzte gemeinsame, sondern erst der erste war.


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Über offene Vermögensfragen und was mit „Eigenbedarf“ bei dem Haus meines Opas wohl gemeint war

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Rückübertragungsansprüche. So nannten das damals alle. Offene Vermögensfragen war wohl der richtige Begriff dafür. Er steht für die Grundstücke und Häuser von jenen, die in der DDR enteignet wurden oder aus welchen Gründen auch immer, immobilares Eigentum in der DDR zurückgelassen hatten. Manche der Besitzer sind geflohen. Manche Besitzer wurden enteignet, andere haben Grund und Boden von ihren Eltern oder Großeltern geerbt, die geflohen waren, ausgebürgert wurden oder eben enteignet wurden. Nach der Wende ein riesiger Marktplatz an pfeilgebotenen Immobilien.

Mein Vater kaufte einst einen Garten einer sehr alten Frau. Er sparte sehr lange dafür, um sich einen Traum zu erfüllen, den er als Sohn eines Bauern lange schon hegte. Seitdem er dem Hof und dem dortigen Dorf seiner Eltern den Rücken gekehrt hatte und Richtung Stadt ging, wollte er einen Garten. Mit einem Bungalow am liebsten und mit viel Platz, um dort Obst anbauen zu können. Und Gemüse. Natürlich auch um beides zu ernten. Er zahlte irgendwann zu Beginn der 80er 6000 Ost-Mark an eine alte Dame, die genau so was loswerden wollte. Weil sie nicht mehr konnte und auch irgendwie keine Lust mehr auf Garten und so hatte. 6000 Mark für 900m² Land mit sieben Obstbäumen, einer eigenen Wasserpumpe, einer Hütte, die zum Schlafen für vier taugte, einem Schuppen und jeder Menge Platz für Gemüse. Das bestimmte ab dann nicht nur sein Leben, sondern das der gesamten Familie. Anbau, Ernte, Pflege, gießen, harken. Erdbeeren, Tomaten, Erbsen, Bohnen, Gurken, Zwiebeln, Blumenkohl, Äpfel, Birnen, Kirschen und wenn er mal wieder ein total verrücktes Jahr hatte, versuchte er sich auch mal an ungarischer Paprika. Später auch an Spargel, was der Familie dann daraufhin finanziell noch so einige Sommerurlaube ermöglichen sollte.

Kurz darauf dann baute er einen Bungalow auf das Grundstück, einen Pool gar, gegossen in Dezimeter breitem Beton. Die Hütte blieb stehen, der Schuppen auch. Wir verbrachten dort 5-6 Monate in jedes Jahr. Immer über die Sommer. Wir nannten es, aus heutiger Sicht verdammt niedlich, „unsere Sommerresidenz“. Wir alle liebten es dort zu sein. Immer. Uhrzeit spielte dort nur eine sekundäre Rolle. Alles richtete sich nur nach Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Die Sonne bestimmte unsere Sommer. Es war rückblickend fantastisch.

Irgendwann im Sommer 1990 fuhr ein Mann im edel wirkenden Zwirn in einer großen Limousine den ewig staubenden Feldweg hoch und hielt vor unserem Garten. „Das hier“, so sagte er, „sei ja jetzt eigentlich mein Garten.“ Er war wohl der Sohn der alten Dame, von dem mein Vater das Grundstück damals kaufte und ging irgendwann nachdem in den Westen. Aber er war der rechtmäßige Erbe dessen und wollte wohl mal gucken, was seine Mutter ihm da mit dem Mauerfall überraschend an zu Geld Machendem hinterlassen hatte. Er war sehr nett und meinte, dass er das Grundstück gar nicht wiederhaben wollte. Er wollte eben „nur mal danach schauen“. „Geld hat er nicht nötig“ und überhaupt könne alles so bleiben, wie es ist, sagte er. Mein Alter war heilfroh. Er wusste, dass da irgendwann mal wer kommen und gucken würde. So kam es dann eben auch. Wir aber konnten bleiben. Das machte ihn heilfroh. Und wenn er froh war war ich es erst recht. Natürlich. Wir hörten von dem Tüpen nichts mehr. Vorerst.

Ein, zwei Sommer später aber kam dieser Mann dann wieder den staubigen Weg hochgefahren. Diesmal im Jogginganzug und mit einer klapprigen Ente unterm Hintern. Er bräuchte „jetzt doch unbedingt und unbedingt schnell etwas Geld“, sagte er. Und das er „das Grundstück nun doch gerne wiederhaben“ wollte – des Geldes wegen, was ein Verkauf dessen hergeben würde, sagte er. Mein Vater war so betrübt, dass er irgendwo ganz tief nähe Erdkern an all das dachte, was er die letzten 10 Jahre an Zeit, Liebe und Arbeit in diesen, in seinen Garten gesteckt hatte. Er war emotional am Boden. Aber er entwickelte einen Plan.

Mein Vater wusste, dass es diese Regelung der offenen Vermögensfragen gab und das er obhin dieser wohl kaum eine Chance haben dürfte, seinen eigentlich erworbenen Anspruch auf das Grundstück auch gerichtlich festsetzen zu lassen. Er wusste, dass er eine derartige Auseinandersetzung verlieren würde. Also willigte er einer Rückübertragung an diesen Mann, der Erbe der schon lange toten, einstigen Besitzerin war, zu. Seine Bedingung dafür, dass außergerichtlich klären zu lassen: ein Neuwagen. Einen Seat Toledo wollte er haben. In rot. Das war alles. Der Mann im Jogginganzug war sich wohl selber nicht ganz sicher, ob er einen diesbezüglichen Rechtsstreit gegen meinen Vater gewinnen würde und willigte ein. Warum auch immer. Vier Wochen später fuhr mein Alter mit einem niegelnagelneuen Toledo vor. In rot und im Wert von 32.000 DM.

Wir räumten dennoch schweren Herzens die Hütte, den Schuppen und den Bungalow leer, schütteten als Andenken an die nächsten Besitzer den Pool mit 14 m³ Beton am Stück zu und zogen von dannen. Das Grundstück wurde daraufhin geteilt, verkauft und keine zwei Jahre später standen Häuser auf beiden Grundtücken. Die stehen da bis heute. Natürlich. Von damals ist wohl nichts mehr geblieben. Außer einer kleinen Schatzkiste vielleicht, die ich damals als Kind im Garten vergrub und die da bis heute noch liegen dürfte. (Und ich werde die ausgraben gehen, bevor ich das Zeitliche segnen werde.)

Eigentlich hatten wir es recht einfach und irgendwie sind wir auch fair da raus gekommen, wenn man es genau nimmt. Anders als mein Opa.

Der wohnte kurz vor Potsdam, erwarb irgendwann in den 60ern dort ein ziemlich geiles Haus auf einem kleinen Berg mit Blick über die Häuser, 300 Meter Fußweg bis zum Fluss. Ich verbrachte als Kind dort viel Zeit. Es gab dort Wiesen, Wälder, Wasser und jede Menge Platz um Kind zu sein.

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Irgendwann in den 90ern aber kam auch dort jemand und wollte seine noch offenen Vermögensfragen klären. „Das Haus und das Grundstück hier gehört ja jetzt einer Erbengemeinschaft, von der ich ein Teilhaber bin“, meinte er, und „wir wollen das jetzt zurück haben“, sagte er. „Eigenbedarf. Wir wollen hier irgendwas machen und wir können Sie dann hier natürlich nicht mehr gebrauchen.“ Da stand mein oller Opa dann, schluchzte seicht und fragte nach so was wie Entschädigung. Schließlich hätte er dort 40 Jahre dafür gesorgt, dass die Bude stehen blieb. Und so. Er bekam einen fünfstelligen Betrag im niederen Bereich, räumte mit uns die Bude leer und zog in einen Plattenbau in Stendal, nähe Magdeburg. Das wars. Er lies die letzten Jahrzehnte seines Lebens hinter sich und hatte, anders als mein Vater in seinem Garten, dort wirklich jahrelang jeden Tag und jede Nacht verbracht. Er wähnte das sein Eigen. Bis zu jenem Moment, als da wer kam und ihm klarmachte, dass genau dem so nicht sei.

So war das damals. Viele im östlichen Schatten der Mauer hassten diese Tüpen, die dann aufliefen. Viele mussten Vieles aufgeben. Manchmal auch alles. Heute habe ich durchaus Verständnis für jene. Auch das.

Als ich heute in der Nähe des alten Hauses meines Opas war, dachte ich so: „Lass uns doch mal gucken, was die damals mit ‚Eigenbedarf‘ gemeint haben. Lass uns doch mal gucken, was die daraus gemacht haben. War ja doch ein recht schönes Haus. So mit Garten, Schuppen, Gewächshäusern und alles. Kann man ja was machen mit heutzutage.“

Was ich fand, war das. 20 Jahre nichts passiert. Verlassen, zerfallen, vergessen womöglich auch. „Eigenbedarf“. Strange irgendwie. Und Opa rotiert in seinem Grabe.

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Gastbeitrag von Ursula Demitter: Ein Leben in der DDR – Kindheit, Teil 6

Ursula Demitter aus Potsdam ist 67 Jahre alt, lebte und arbeitete in der DDR. Unter anderem bei der DEFA. Heute gibt sie Nachhilfeunterricht und schreibt hin und wieder ihre Erinnerungen von damals in Textdokumente. Da ich ohnehin ein großes Interesse an DDR-Biografien des Alltags habe und möchte, dass derartige Erinnerungen nicht auf irgendwelchen Festplatten verschimmeln und irgendwann einfach den Tod einer Festplatte sterben, packe ich die Texte von Ursula ab jetzt hier in unregelmäßigen Abständen rein. Hier finden sich alle ihrer Texte.

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(Foto: Richard Peter, unter CC von Deutsche Fotothek)

Wir hatten in der Schule viele Angebote, uns nachmittags zu beschäftigen.

Da gab es zuallererst den Schulchor, geleitet von der Musiklehrerin, die ein enges Verhältnis zu den Schülern pflegte und die sehr verehrt wurde. Eine Gruppe auserwählter Schüler durfte sie sogar zu Hause besuchen. Ich gehörte nicht dazu, hatte irgendwie den Anschluss verpasst und war furchtbar neidisch. Später , als wir älter wurden, war ich froh, mit einer Lehrerin nicht so befreundet zu sein. Man konnte sich leichter von ihr abwenden.

In den unteren Klassen hatten wir in der Schule noch das Fach „Handarbeit“, oder hieß es „Nadelarbeit“? Es gab wohl beide Begriffe. Der Unterricht fand für die ganze Klasse statt, also auch für die Jungs. Später, so ab der sechsten Klasse, fiel das Fach weg. Ich glaube, die Lehrerin ging in Rente.

Es begann ganz harmlos mit ein paar Häkelmaschen und ein bisschen Stricken. Dann sollten wir einen Beutel stricken, damit wir das seitliche Maschenabnehmen, das man zum Strümpfestricken braucht, lernen konnten. Ich war in dem Fach nicht begabt, denn meine Motorik hielt sich in Grenzen. Obwohl auch bei uns zu Hause unter Omas Anleitung hauptsächlich das Stricken hochgehalten wurde, hatte ich im Handarbeitsunterricht keine Chance. Wenn wir Hausaufgaben bekamen, strikte meine Oma immer heimlich ein Stück an meinem Beutel. Leider sahen ihre Maschen viel gerader und gleichmäßiger aus als meine und so blieb der Lehrerin die Schummelei nicht verborgen.

Irgendwann nähten wir eine Schürze und begannen sie zu besticken. Ich hatte mich für eine Halbschürze aus weißer Baumwolle entschieden. Am unteren Rand sollte eine Kreuzstichkante in Braun, Rot und Grün entstehen. Bis zur Mitte bin ich tatsächlich gekommen. Noch Jahre danach mahnte mich das unvollendete Stück vorwurfsvoll an meine Unfähigkeit zu feiner Handarbeit. Irgendwo bei den angefangenen Näharbeiten, die in dieser Zeit fast jeder Haushalt besaß, denn man konnte um Himmels willen, ein Stück Stoff nicht einfach wegwerfen, lag meine halb gestickte Schürze.

Warum ich später freiwillig in die Arbeitsgemeinschaft Handarbeit gegangen bin, ist mir bis heute ein Rätsel. Na schön, die Lehrerin war sehr nett. Es ging auf den Herbst und es machte nicht mehr so viel Spaß, sich draußen herumzutreiben, weil es schnell dunkel wurde. In der Arbeitsgemeinschaft trafen wir uns einmal wöchentlich für ca. 2 Stunden in einem Klassenzimmer im kleinen Schulhaus. Jegliches Material wurde uns gestellt. Die Lehrerin arbeitete wahrscheinlich ehrenamtlich. Aber genau weiß ich es nicht. Als erstes stellten wir Untersetzer für Kaffekannen her. Eine dicke Paketstrippe wurde umhäkelt und gleichzeitig zusammengefasst. Immer eine Masche umhäkeln und eine Masche zum verbinden mit der vorherigen Runde. Das Garn war billig und ließ sich schlecht verarbeiten. Es hatte keinerlei Spannung. Auch die Farben waren sonderbar: Wir hatten nur Lila, Grün und Grau zur Verfügung.

Nach dem einige Kannenuntersetzer tatsächlich entstanden waren, machten wir uns an einen runden Behälter mit Deckel. Es sollte eine Art Schmuckkästchen werden. Meines wurde tatsächlich fertig, es war halt ein langer Winter. Wenn wir vom Handarbeitskurs nach Hause gingen, war es schon dunkel. Zusammen mit meiner Schulkameradin Regina musste ich vom Dorf Drewitz zum Stern, die endlose Sternstraße entlang laufen. Am Ende der Sternstraße wohnte Regina in einem der letzten Häuser. Dann musste ich allein noch ein Stück unbebauten Feldweg am Kiefernwald entlang, bis ich unsere Straße erreichte, die beleuchtet war und in der ich mich sicher fühlte. Einmal verfolgte uns ein Radfahrer, der sich seinen Pullover über den Kopf gezogen hatte. Wir begannen zu rennen. Plötzlich fuhr er mitten zwischen uns hindurch und rief: Huhu. Wir rannten jeder in eine Richtung wie um unser Leben. Keine drehte sich nach der anderen um. Zu Hause schämte ich mich dann, dass ich jede Art von Solidarität hatte vermissen lassen. Aufgeregt schilderte ich den Vorfall und konnte die Person sehr genau beschreiben. Auch einen Sack mit Grünfutter auf dem Gepäckständer hatte ich gesehen. Meine Schwester wusste sofort, wer aus ihrer Klasse jeden Abend Karnickelfutter holen musste. Es war Kalle. Am nächsten Tag suchte meine Mutter die Familie auf, Kalle wurde befragt, überführt und bekam von seiner Mutter zwei schallende Ohrfeigen. Der Fall war erledigt, die Untat gesühnt. Trotzdem machte ich von da an um Kalle immer einen großen Bogen.

In der siebenten Klasse wurde uns mitgeteilt, dass in Potsdam eine Station Junger Techniker eröffnet worden sei. Wir bekamen Hinweise auf verschiedene Arbeitsgemeinschaften, unter anderem Fotografie. In unserer Familie wurde das Fotografieren immer wichtig genommen. Zu unzähligen Anlässen mussten wir drei Geschwister uns aufstellen, lächeln, „nicht bewegen“, rief meine Mutter, bis sie das Bild im Kasten hatte. Es waren immer die gleichen gestellten Szenen, nie war ein Schnappschuss darunter. Dennoch war meine Mutter auf ihre Kamera Marke Voigtländer mit ausziehbarem Lederbalgen unendlich stolz. Sie hatte sie sich als junges Mädchen von einem der ersten Gehälter gekauft.

Eine Gruppe von acht oder zehn Mädchen aus beiden siebenten Klassen meldete sich zum Fotoclub. Wir fuhren immer mit dem Fahrrad bis zur Schlaatzstraße. In der Friedhofsgasse in einer Villa aus gelben Klinkern war der Club. Die Fotoarbeitsgemeinschaft hatte ihr Domizil im Souterrain. Dort lernten wir nicht nur Fotografieren sondern auch den ganzen labortechnischen Ablauf: Negativentwicklung in der Entwicklerdose, Film aufhängen, trocknen lassen. Dann mittels Vergrößerungsgerät Positive herstellen und mit Plasteklammern in die drei bekannten Schalen werfen: Entwickler, Wasser, Fixierbad. Wir waren eine sehr fröhliche Arbeitsgemeinschaft bestehend aus Mädchen der zwei siebenten Parallelklassen. Ich erinnere mich, dass ich verwundert war, dass manche Mädchen, die in der Schule so absolute Schlusslichter waren, so nett und lustig sein konnten. Das heißt, wir waren in unserer bisherigen Freizeit in recht sortierte Gruppen geteilt. Ich unterschied in der Schule zwischen den „Guten“, die meine Freunde waren und den „Doofen“, mit denen es nicht lohnte, sich zu befassen. Die Teilnahme in der AG sowie das ganze fototechnische Material, das wir nach und nach vernichteten, kostete uns keinen Pfennig. Wir durften soviel Bilder wie wir wollten anfertigen und mit nach Hause nehmen. Auf unsere eigenen Porträts waren wir immer besonders scharf. Die Foto AG hat mir später geholfen, eine Lehrstelle zu bekommen. Als ich mich nach der zehnten Klasse im DEFA-Spielfilmstudio um die Ausbildung als Filmkopierfacharbeiter bewarb wurde ich gefragt, warum gerade etwas mit Film. Da konnte ich natürlich vom Leder ziehen und in den wärmsten Farben meine Begeisterung fürs Fototechnische Fach schon seit der siebenten Klasse schildern. Das saß. Ich hatte den Job.

Zu Schuljahresbeginn waren wir in der Drewitzer Schule plötzlich zwei siebente Klassen geworden und das kam so. Die Enklave Steinstücken, die zu Westberlin gehörte war bis ca. Mitte der Fünfziger Jahre noch nicht eingezäunt. Es standen einfach nur Schilder da. Man wusste, die eine Straßenseite war Westen und die andere war Osten. Rund um Steinstücken patrouillierten DDR-Grenzpolizisten in Doppelstreife, voll bewaffnet. Ein kleine Grundschule, die sogenannte „Waldschule“ grenzte so nah an Steinstücken, dass man aus dem Fenster in den Westen hätte springen können. Das war natürlich Unsinn, denn man konnte sowieso dorthin ungehindert laufen. Jedoch wurde die Schule geschlossen, die Schüler auf umliegende Schulen verteilt und das Gebäude abgerissen. Diese, irgendwie doch schon vorbereitenden Maßnahmen wurden knapp drei Jahre vor dem Mauerbau getroffen.

Auf der Westseite der Steinstraße gab es einen kleinen Tante Emma-Laden. Von Klassenkameraden habe ich damals gehört, dass sie im Westladen eingekauft hatten. Sie warteten, bis die Grenzposten auf ihrer Runde außer Sichtweite waren und flitzen dann auf die andere Straßenseite . Mit ein paar Westgroschen von Oma wurde Kaugummi gekauft, der nicht nur wunderbar duftete, sondern in jedem der flachen Päckchen, wenig größer als eine Streichholzschachtel, lag ein farbiges Schauspielerfoto einer Hollywoodberühmtheit. Viele von uns sammelsten und tauschten die Bilder. Meine Schwester besaß einen Campingbeutel aus braunem Kord aus dem Westen. An der Seite war ein Täschchen aus durchsichtiger Plaste mit einem Druckknopf. Aus diesem Plastesfenster lächelte vom Kaugummibildchen Harry Bellafontee. Ich hatte keinen Campingbeutel und ich liebte Harry Bellafonte von Anfang an. Gleich nach der Wende sah ich ihn das erste Mal leibhaftig im Konzert im ICC. Er wurde von einem Damenbackround begleitet, damit man nicht merken sollte, dass er die großen Höhen nicht mehr packte. „Harry,“ dachte ich, „wir haben zu lange gewartet“.

Ich hätte mich nie getraut, in Steinstücken einkaufen zu gehen, denn es war „politisch“ und streng verboten. Außerdem hatte ich kein Westgeld zu meiner eigenen Verfügung.

Einmal kam meine Schwester von der Tanzstunde. Weil es schon spät war und sie sich graulte lief sie auf der Westseite entlang, denn die hatten schließlich Laternen. Zwei junge Grenzer hielten sie auf und verlangten, sie solle auf der Ostseite laufen. Sie wollten ihr Angst machen, kraft ihrer Wassersuppe als Grenzorgane. Aber meine Schwester durchschaute das Geschehen und blieb stur. Sie zeigte keinen Ausweis und gab keine Auskunft wo sie herkam und ging auch nicht auf die Ostseite. Sie fand die beiden Jungs einfach frech. Das Ganze endete mit einem Telfonanruf bei uns zu Hause. Spät abends musste sich mein Vater ins Auto setzen um meine Schwester auszulösen. Die Sache hatte kein Nachspiel. Niemand fand etwas dabei. Auch kann ich mich nicht erinnern, dass meine Eltern meiner Schwester Vorwürfe gemacht hätten. Es war halt dumm gelaufen. Eine Plänkelei unter jungen Leuten.

Später, noch vor der Mauer, wurde ein Zaun um Steinstücken gebaut und die Bevölkerung bekam einen Korridor durch den sie nach West-Berlin fahren konnten. Er wurde auf halber Strecke von DDR-Grenzern kontrolliert. Die Mauer, die den Korridor vom Osten trennte, sah schon genau so aus, wie später die Berliner Mauer. Als die Mauer stand, habe ich davon gehört, dass ein amerikanischer Hubschrauber in Steinstücken gelandet sei. Es war eine Provokation gegen die DDR hieß es und man könne froh sein, dass die Russen nicht geschossen haben. Der Laden hatte dann auch schon dicht gemacht.

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Christiane F. hat ein neues Buch geschrieben, eine Autobiografie: „Mein zweites Leben“

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Nachdem die Mauer damals eingerumst war, hatte ich ein bisschen den Eindruck, dass Lehrer an meiner POS sich daran rächen wollten, in dem sie immer und immer wieder diesen Film in den rollbaren „Medien-Schrank“ der Schule warfen um uns ehemaligen Jungpionieren beweisen zu können, wie fürchterlich es im Westen zugeht. „Drogen! Sozialer Abstieg! Prostitution! Armut! Elend! Tod! Der Joint als Einstiegsdroge. Seht her, Kinder, so geht es im Westen wirklich zu! Fürchterlich!“ Als ich den Film das erste Mal sah, fand ich das tatsächlich ganz doll fürchterlich. Alles. „Bloß niemals das mit diesen Drogen, Junge!“, dachte ich so.

Aber das legte sich und spätestens nach dem ersten Joint und Freunden, die sich regelmäßig mit Amphetaminen „frisch“ machten, wusste ich, dass es nicht zwangsläufig so enden müsste. Ich fühlte mich irgendwie belogen, aber hatte eine Regel: niemals Heroin! Ich nahm viel weniger Schlimmes auch nicht, aber es war eine Regel.

Bis heute ist der Film für mich so ein Drahtseil, auf deren Seiten sich zwei Abgründe auftun. Zum einen der totale Abgrund, der den Drogen das nimmt, was für viele erstmal der Grund ist, sie überhaupt zu probieren: den Spaß nämlich. Auf der anderen Seite die totale Verarsche, die medial grau-grün-dunkelschwarz eingefärbt wurde und eben mit der Lüge spielte, das jeder, der mal an einem Joint zieht, zwangsläufig hinterm Bahnhof Zoo landen müsste.

Ich weiß es bis heute nicht genau, würde aber in einem präventiven Rahmen wohl eher davon absehen, diesen Film zu zeigen. Da gibt es heute durchaus bessere. Wie auch immer.

Christiane Felscherinow ist mittlerweile 51 Jahre alt und hat vermutlich einige Odysseen hinter sich gebracht.

Christiane Felscherinow lebt heute davon, Geschichten zu erzählen und Geschichte zu sein. Tantiemen aus Buch und Film finanzieren immer noch ihr Leben. Sie lebt von ihrer Offenheit, ihrer Naivität und dem Rest Natürlichkeit, den sie sich nach all den Jahren immer noch bewahrt hat. Sie lebt, weil sie Glück hatte. Ihren Körper zerstörte sie mehrfach, sie leidet unter eine irreparablen Leberschädigung und ist immer noch auf Methadon angewiesen.
(Spontis)

Jetzt hat sie beim Levante Verlag ihre Autobiografie „Mein zweites Leben“ veröffentlicht und ich denke darüber nach, diese zu lesen. Auch deshalb, weil sie in den 90ern ausgerechnet dort hinzog, wo von ich in selber Zeit gerade nach Berlin zu flüchten gedachte, aber das ist eine andere Geschichte. Da gibt es dann auch eine „Fan-Edition“ und „eine Fan-Edition mit persönlicher Widmung von Christiane F.“ Naja. Es muss halt immer alles verwertet werden. Auch ich kenn das.

Aber: sie hat eben nicht nur diese Autobiografie geschrieben, sondern sie blogt auch, hat ein Twitter- und ein Facebook-Profil, was natürlich auch den PR-Gedanken des Verlages geschuldet sein kann. Aber zumindest auf ihrem Blog erscheinen durchaus tolle Texte, die wohl auch Teil des Buches sind. So wie diesem hier von Brad.

Wir lebten ein Leben im Vollrausch, völlig rausgerissen aus der Realität.

Meistens lebten wir nachts, hingen im „Dschungel“, „Risiko“, in der „Music Hall“ und all diesen angesagten Clubs ab. Ich weiß gar nicht mehr wie die ganzen Läden hießen. War auch egal, wo wir waren: Als Gespann und später auch als Liebespaar, mit unser Popularität und unserem Aussehen, zogen wir die anderen Undergroundler an wie das Licht die Motten!

Rückblickend findet sie den Verlauf ihres Lebens und ihrem Umgang mit den Drogen alles andere als glücklich, wie sie schreibt. Natürlich. Alles andere wäre wohl auch nur schwer bis unmöglich nachvollziehbar. Vielleicht betreibt sie auch deshalb mittlerweile eine Stiftung, die sich um Kinder mit suchtkranken Eltern bemüht.

Und weil das, was sie heute zu sagen hat, eben zu einem Teil im Netz passiert, gibt es natürlich auch ein Video zu ihrer Autobiografie.

http://vimeo.com/73560537
(Direktlink, via Robert)

Ein Kommentar

Gastbeitrag von Ursula Demitter: Ein Leben in der DDR – Kindheit, Teil 5

Ursula Demitter aus Potsdam ist 67 Jahre alt, lebte und arbeitete in der DDR. Unter anderem bei der DEFA. Heute gibt sie Nachhilfeunterricht und schreibt hin und wieder ihre Erinnerungen von damals in Textdokumente. Da ich ohnehin ein großes Interesse an DDR-Biografien des Alltags habe und möchte, dass derartige Erinnerungen nicht auf irgendwelchen Festplatten verschimmeln und irgendwann einfach den Tod einer Festplatte sterben, packe ich die Texte von Ursula ab jetzt hier in unregelmäßigen Abständen rein. Hier finden sich alle ihrer Texte.

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(Foto: Richard Peter, unter CC von Deutsche Fotothek)

Am Ende unserer Straße begannen die Drewitzer Felder . Im letzten Haus wohnte Anna, meine Klassenkameradin. Jeden Morgen holte ich sie zur Schule ab. Zusammen mit anderen Kindern hatten wir einen weiten Schulweg, den immer alle „Sternkinder“ zusammen gingen.

Annas Eltern hielten einen Boxer, der Jupp hieß. Jupp hatte seinen Platz im Schuppen nur durch eine dünne Bretterwand von der Ziege getrennt. Uns Kinder ließ man mit dem Hund an der Leine nicht allein gehen. Er war zu ungebärdig und zu stark. Es gefiel mir auch nicht, dass er ständig sabberte. Wir durften aber mitkommen, wenn Annas Vater mit dem Hund in den Wald ging. Damals gab es mitten im Wald an der Drewitzer Sternstraße eine wilde Mülldeponie, wohin anscheinend die Drewitzer früher ihren Müll gebracht hatten. Manchmal fanden wir altertümliches Zeug, wie kleine Puppen aus Porzellan, die aber immer beschädigt waren.

Die Siedlung am Stern hatte sich in den zwanziger und dreißiger Jahren aus einer Wochenendsiedlung von gut bürgerlichen Berliner Familien entwickelt. Insofern hatten unsere Funde, auch wenn sie fast immer beschädigt waren, aus unserer Sicht etwas exotisch Vornehmes. Edles Porzellan, Nippes, Gläser, Kerzenhalter, sogar alte Spitze war dabei. Meine Eltern hatten mir verboten mit zur Müllkute zu gehen. Aber ich hielt mich nicht dran, weil ich fand, mit Annas Vater war ein Erwachsener dabei.

Einmal kam ich um Anna abzuholen und wurde in die Küche gebeten, sie war noch nicht fertig. Auf dem Herd brodelte die Brühe mit dem Freibankfleisch für das Hundefutter leise vor sich hin. Ohne Gewürze versteht sich. Es roch nicht gerade verführerisch. Aber Annas Mutter ging völlig selbstverständlich mit Messer und Gabel an das Fleisch, schnitt sich kleine Stückchen ab und verzehrte sie genüsslich. Es schüttelte mich. Eine zeitlang musste ich morgens, wenn ich Anna abholte immer eine Tasse Ziegenmilch-Kakao trinken. Annas Mutter hatte beschlossen, dass ich zu dünn und zu blass wäre. Es schmeckte sehr nach Ziege, aber ich wagte aus Höflichkeit nicht abzulehnen. Annas Mutter war Polin und sprach gebrochen Deutsch mit starkem Akzent. Ein gut gemeinter Satz in ihrer etwas drastischen Erziehung hieß zum Beispiel: „Anna du dumme Zicke, du, spiel nich immer mit die alte Eule..“. Das war der freundliche Hinweis, dass sie ihre Puppe weglegen und der Mutter helfen sollte. Mit Annas Mutter sind wir viel in den Wald gegangen. Dabei musste Jupp immer mit, weil die Mutter im Wald große Angst hatte. Später hat eine Nachbarin behauptet, Annas Mutter musste aus Polen verschwinden, weil sie mit den Deutschen kollaboriert hatte.

Wir suchten Pilze, pflückten Blaubeeren und Preisselbeeren. Es gab wilde Himbeeren, wilde Brombeeren und kleine wilde Erdbeeren. Den ganzen Sommer gab es viele verschiedene Pilze. Annas Mutter wusste immer, wo man etwas finden konnte. Fast immer liefen wir das Breite Gestell bis zur Brücke über die Autobahn und sahen auf die Autos hinunter. Da fuhren echte Westautos, was wir spannend fanden. Die älteren Kinder gingen häufig allein zur Autobahn. Sie winkten den Autos wofür ihnen manchmal Kaugummis oder Schokolade zugeworfen wurde. In der Schule wurde uns gesagt, das dies verboten sei.

In der Nähe der Brücke machte die Autobahn eine ziemlich scharfe Kurve.

Einige Male im Jahr kam es vor, dass ein LKW dort die Kurve nicht kriegte und umkippte. Da immer einige Drewitzer Kinder in der Hoffnung auf Beute an der Autobahn herumlungerten, sprach sich so ein Unfall in Windeseile herum. Dann machten sich die größeren Jungs auf den Weg, um etwas von der Ladung zu erwischen. Einmal waren es Nylonstrümpfe, wie ich dann in der Schule hörte. Die Jungs sammelten Sie heimlich auf und versteckten sie unter ihren Trainingsblusen. So etwas trugen damals fast alle. Wir mussten ja zu Hause unsere Schuklamotten aussziehen und in Trainingsanzügen herumlaufen. Wir waren sowieso abenteuerlich gekleidet. Wir besaßen Winterhosen, die meine Mutter aus einer umgefärbten alten Wehrmachtsuniformen genäht hatte. Dann gab es noch eine echte Kletterweste der Hitlerjugend, die alle drei Kinder nacheinander trugen. Die Schnallen und Aufnäher hatte meine Mutter abgetrennt und die Jacke dunkelbraun gefärbt. Es war ein sehr beliebtes Kleidungsstück unter uns Kindern, sollte aber eigentlich nicht zur Schule angezogen werden. Meine Schwester und ich besaßen weiße Folkloreblusen, die meine Mutter aus Fallschirmseide genäht hatte. Den Fallschirm hatte sie kurz nach dem Krieg heimlich aus einem Waldstück mitgeschleppt, was natürlich auch verboten war. Dazu trugen wir rote Trachtenröcke, die aus einer ehemaligen Nazifahne enstanden waren. Da wo der Aufnäher mit dem Hakenkreuz gesessen hafte, war der Stoff dunkler. Damit es nicht auffiel, stickte meine Mutter mit Perlgarn große Schwarze und weiße Punkte auf.

Einmal kippte kurz vor Weihnachten ein LKW mit einer Ladung Apfelsinen um. Mein Bruder war gerade wieder mit an der Brücke. Er stopfte sich immer wieder die Trainingsbluse voll, rannte in den Wald und legte ein Versteck an. Beim letzten Mal erwischten ihn die Russen und er musste seine Beute zurücklassen. Weil die Autobahn Transitstrasse nach Westberlin war, kamen bei solchen Unfällen immer die Russen, sperrten alles ab und scheuchten die Kinder weg. Doch unsere Familie hatte in dem Jahr zum Weihnachtsfest für jeden in der Familie mehr als drei oder vier Orangen. Es kam uns vor, wie der größte Luxus. In anderen Jahren hatte meine Mutter immer fünf Apfelsinen, also für jeden eine, in Westberlin gekauft und eingeschmuggelt. Sie gehörten traditionell auf den Bunten Teller, sonst war es kein Weihnachten.

Der Verkehr auf der Autobahn war sehr mäßig. So kam es, dass niemand etwas dabei fand, dass die Trecker mit den Langholzfuhren, ja sogar manchmal auch Pferdefuhren mit Holzstämmen auf der Autobahn fuhren. Unsere Eltern wollten eigentlich nicht, dass wir uns dort aufhielten. Es schien ihnen gefährlich. Bei einem Sonntagsspaziergang mit der ganzen Familie hatte mein Vater festgestellt, dass das Brückengeländer total morsch war. Später fuhr ein Junge aus Drewitz mit dem Fahrrad dagegen, das Geländer brach und er fiel auf die Autobahn. Weil er den Grünstreifen erwischt hatte, war der Sturz nicht tödlich. Da lag er nun und wurde von einem Langholzfahrer gefunden. Handys gab es noch nicht, die drei einzelnen Häuser im Priesterweg, die am nächsten lagen, hatten garantiert kein Telefon. Ich kann es mir kaum vorstellen, aber es ging die Legende um, der Fahrer hätte den Jungen oben aufs Holz gelegt und ins Dorf gebracht. Naturlich wusste im Dorf später jeder über einen so spektakulären Vorfall Bescheid. Es ging die Rede, der Verunglückte hätte einen Schädelbruch gehabt und wurde körperlich wieder gesund, soll aber im Kopf etwas zurück behalten haben.

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Gastbeitrag von Ursula Demitter: Ein Leben in der DDR – Kindheit, Teil 4

Ursula Demitter aus Potsdam ist 67 Jahre alt, lebte und arbeitete in der DDR. Unter anderem bei der DEFA. Heute gibt sie Nachhilfeunterricht und schreibt hin und wieder ihre Erinnerungen von damals in Textdokumente. Da ich ohnehin ein großes Interesse an DDR-Biografien des Alltags habe und möchte, dass derartige Erinnerungen nicht auf irgendwelchen Festplatten verschimmeln und irgendwann einfach den Tod einer Festplatte sterben, packe ich die Texte von Ursula ab jetzt hier in unregelmäßigen Abständen rein. Hier finden sich alle ihrer Texte.

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(Foto: Richard Peter, unter CC von Deutsche Fotothek)

Wir waren also wirklich aus der Stadtmitte an den Stadtrand gezogen. Drewitz war damals noch ein eigenständiges Bauerndorf mit den dafür typischen Strukturen und gehörte noch nicht zur Stadt Potsdam. Es gab ein paar Großbauernhöfe. Noch hatte die Zwangskolletivierung zu Genossenschaften nicht stattgefunden. Dazu die kleine Infrastruktur: Es gab einen Schuster, zwei Bäcker, einen Fleischer, einen Fahrradfritzen, einen Gärtner, einen Frisör, zwei Kneipen, einen Taxifahrer, eine Drogerie und einen kleinen Wäscheladen. Dann noch eine Tischlerwerkstatt , einen Kohlenhändler und den Dorfpolizisten. Natürlich die Schule mit dem kleinen und dem großen Schulhaus und die Kirche, wo jeden Sonntag der Gottesdienst stattfand. Und es gab auch schon den gerade erst neu eingerichteten Konsum. Nach Potsdam fuhr man mit dem Oberleitungsbus über den Bahnhof Drewitz bis zum Rathaus Babelsberg. Von dort mit der Straßenbahn weiter. Die Endhaltestelle des Busses mit dem Wartehäuschen war Treffpunkt für Heranwachsende. Es zog halt die Jugendlichen zur Bushaltestelle, wie die „kleinen Italiener“ zum Bahnhof. (Ein erfolgreicher deutscher Schlager, gesungen von Conny Frohboes in den sechziger Jahren. Kennt heute keiner mehr)

Wir waren Zugezogene, gehörten noch nicht dazu und wurden kritisch beäugt. Aber da wir drei Kinder waren, hatten wir in drei Altersstufen Klassenkameraden, die jede mögliche Neuigkeit über unsere Familie im Dorf verbreiteten.

In Drewitz sprach man irgendwie ein anderes Idiom als in Potsdam. Die Umgangssprache beharrte unerschütterlich auf einer sehr abgespeckten Grammatik. Mich irritierte das zuerst, weil in meiner Familie mehr oder weniger Hochdeutsch, auf alle Fälle aber grammatikalisch richtig gesprochen wurde.

Die Drewitzer hatten es mit dem Maskulin: „Der Radio spielt, der Moped fährt und der Benzin stinkt.“ Das war gängiger Alltag. Am schönsten fand ich einen Zuruf einer Frau für die Fahrschüler nach Schulschluss: „Fährt ihr mit den Bus? Brauchta nich su rennen, der Bus fahrt schon.“

In der neuen Schule war alles anders. Schon dass wir zwei Schulhäuser hatten und dass Jungen und Mädchen in einer Klasse lernten, war für mich neu. Auch wusste ich nicht, dass es eine nette Geste der Aufmerksamkeit war, wenn die Jungen die Mädchen schubsten oder am Zopf zogen. Also ging ich als Kämpfer für Gerechtigkeit dazwischen und bekam ein paar Mal eine aufs Maul, bis ich begriffen hatte, dass es besser war, sich nicht einzumischen. Als Neuankömmling in der zweiten Klasse gehörte ich natürlich in das kleine Schulhaus. Das war ein uraltes Gebäude aus Glindower Klinkern, direkt gegenüber der Kirche. Wir Kleineren hatten einen eigenen Schulhof, der durch einen Zaun vom „großen Schulhof“ getrennt war. Die Pforte war immer offen, damit die Lehrer ungehindert von einem Haus zum anderen wechseln konnten. Aber nie kam es einem der Zwerge in den Sinn, sich auf dem großen Schulhof blicken zu lassen. Auch die älteren Schüler achteten das Verbot, unseren Schulhof zu betreten… War es Disziplin oder Autorität der Lehrer oder Angst vor Strafen? Wer weiß das schon. Jedenfalls war es eine gute Regelung. Gleich in den ersten Tagen meiner Anwesenheit zog die ganz Klasse direkt nach dem Unterricht durch das Dorf. „Zum Religion“ sagten die Kinder. Nur das einzige katholische Mädchen unserer Klasse durfte nicht mit, wofür sie mir sehr leid tat. Ich lief einfach mit, denn als Jüngste in der Familie war ich es gewohnt, mich anzuschließen, ohne zu verstehen, was ablief.

In einem ausgebauten Stallgebäude, an der Kreuzung Neuendorfer zur Trebbiner Straße fand unser Religionsunterricht statt. Offiziell hieß es „Christenlehre“, wie unsere Schwester Ida, die den Unterricht erteilte, immer wieder verbesserte. Schwester Ida war eine evangelische Diakonisse, deren Hände immer wie frisch gescheuert aussahen und nach Kernseife rochen. Sie las uns jedesmal einen Abschnitt aus einer Kinderbibel vor. Das Buch hieß „Das Wort läuft“ und enthielt die biblischen Geschichten in etwas verständlicherer Sprache. Es wurde auch gesungen und gebetet und der ganze Ablauf gefiel mir sehr. Zu Beginn der Stunde sollte sich immer ein Kind melden und die Geschichte von der letzen Woche nacherzählen. Ich erzählte und erzählte, wann immer ich konnte. Die anderen Kinder fanden es nicht so toll wenn sie drankamen und ließen mir den Vortritt. Jedesmal bekam ich bunte Bildchen über biblische Themen, die von einem großen Bogen wie Briefmarken abgerissen wurden.

Eines Tages , als Schwester Ida wieder die Anwesenheit prüfte, kam heraus, dass ich nicht auf ihrer Liste stand. Ich sagte meiner Mutter, „Du muss mich zum Religion anmelden, ich bin noch nicht auf der Liste.“ Das brachte einiges Durcheinander in unsere Familie. Es stellte sich heraus, dass wir alle drei nicht getauft waren und dass sich meine Eltern zu diesem Problem nie ausgetauscht hatten. Ich verlangte kategorisch, sofort getauft zu werden, was nach einigem Hin und her auch tatsächlich stattfand. Eine Taufe musste natürlich im Gottesdienst stattfinden, aber wegen des zu erwartenden Geredes im Dorf legte der Pastor die Taufe kurzerhand in den Kindergottesdienst. Es gab auch zu Hause eine schöne Feier, viele entfernte Verwandte kamen und brachten Geschenke. Plötzlich hatte ich „Patentanten“. Ich fand, dass es sich gelohnt hatte. Um unseren gerade erworbenen Glauben vor dem Dorf zu demonstrieren gingen wir nun jeden Sonntag in die Kirche. Mein Vater kam nur zu Weihnachten mit, sagte aber nie ein Wort dagegen.

Unsere Lehrer in der Schule waren anders, als in der alten Schule in Potsdam. Sie waren sehr nett, nicht so sehr auf Autorität bedacht und es herrschte eine familiäre Atmosphäre. Im Winter durften alle Kinder, die einen weiten Schulweg hatten Hausschuhe mitbringen und sich an den Ofen setzen. Viele Lehrer waren sogenannte „Neulehrer“ von denen meine Mutter immer ein wenig herablassend sprach. Aber sie konnten interessante Geschichten aus ihren früheren Berufen erzählen. Das forderten wir immer am ersten und letzen Schultag ein. Nur der Mathelehrer, der schon ziemlich alt war, las uns an solchen Tagen Balladen vor. Ich fand dass „Der Taucher“ oder „Der Handschuh“ von Schiller ungeheuer spannende Geschichten waren. Unsere Musiklehrerin war auf Volkslieder versessen. Was sollte sie auch machen, die neuen Pionierlieder waren nicht ihr Geschmack. So lernten wir der „Mond ist aufgegangen“ und „Kein schöner Land in dieser Zeit“ und vieles mehr. Die Lieder kannte ich alle schon von zu Hause und wurde schnell ihr Liebling. Bei Auftritten unseres Schulchores musste ich in der ersten Reihe stehen und immer den Anfang der nächsten Strophe leise soufflieren. In den neuen Liederbüchern standen die meisten Lieder verkürzt. Es fehlten immer die Strophen in denen der liebe Gott vorkam. Unsere Lehrerin ließ uns jedes Mal die fehlende Strophe ins Heft schreiben und wir sangen sie mit.

Mein Klassenlehrer in der Unterstufe war früher zur See gefahren und benutze noch das entsprechende Vokabular. „Wenn ich sage ausscheiden, dann ist ausscheiden.“ rief er oft, um uns zur Ruhe zu bringen. Später erfuhr, ich dass dies ein Kommando auf See ist. Einmal schrieb er ein Wort falsch an die Tafel. Ich begann mit ihm zu streiten, aber er blieb dabei. Als ich mich zu Hause bei meiner Mutter beschwerte, drückte sie mir einen Duden in die Hand. Damit marschierte ich am nächsten Tag in die Schule. Wenn ich daran denke, ist es mir heute noch peinlich.

In dem frühen DEFA-Spielfilm „Die besten Jahre“ gibt es eine ähnliche Szene.
Da beschwert sich einer über das mangelnde Wissen des Neulehrers beim Landrat.
„Solange wir nicht genug ausgebildete Lehrer haben“ sagt ihm der ganz ruhig, „wird Blume eben mit h geschrieben.“

Außer der katholischen Anna waren alle Kinder in meiner Klasse Pioniere. Sie besaßen ein blaues Halstuch und einmal in der Woche war Pioniernachmittag. Da durfte ich nicht mitmachen. Es war klar, das ich nicht dazugehörte. Sie machten Wanderungen in die umliegenden Nuthewiesen, sammelten Eicheln und Kastanien für die Waldtiere im Winter und bastelten. Da die Klassenlehrerin, den Pioniernachmittag gestaltete, wurde auch in den folgenden Tagen im Unterricht darüber gesprochen. Immer wenn der Pioniernachmittag begann und ich nach Hause geschickt wurde, war ich sauer. Zu Hause begann ich zu verhandeln. Von meiner Mutter kam nur Ablehnung, aber keine Begründung, kein Argument. In der Schule wurde ich mehrmals gefragt, wann ich denn nun eintreten wolle. Bis es mir zu viel wurde mit der Fragerei und ich sagte: „Nächste Woche“. Ich wurde noch gefragt, ob meine Mutter Bescheid wüsste, was ich eifrig bejahte. Es gab auch kein Schriftstück an meine Eltern. Ich wurde feierlich aufgenommen und bekam das ersehnte blaue Tuch. Vorsichtshalber versteckte ich es noch ein paar Wochen, war dann aber so ungeschickt, dass es irgendwann herauskam. Meine Mutter war beleidigt und ich wusste nicht warum.

Mit den Pioniernachmittagen fuhren wir auch manchmal in die Stadt. Wir lernten das funkelnagelneue Pionierhaus am Heiligen See kennen. Dort sahen wir Filme und Theaterstücke oder wurden zum Basteln angeleitet. Einmal mussten alle Schüler der kleinen Schule in eine Klasse kommen. Der Raum war völlig überfüllt. Dann wurde uns gesagt, dass ein großes Unglück geschehen ist, der Genosse Stalin ist gestorben. Einige größere Mädchen begannen zu weinen. Dann sollten wir eine Schweigeminute halten, was nicht recht gelang. Ich blickte an die Klassenwand. Dort waren vier Köpfe im Profil aneinadergefügt aus Presspappe und mit Goldbronze lackiert. Sogar ich wusste, wer das war: Marx, Engels, Lenin, Stalin.

Ganz andere auch sehr schöne Erlebnisse organisierte die Kirche. Es gab Spielnachmittage im Garten des Pfarrers mit Kaffe und Kuchen, es wurde ein großes Erntefest gefeiert, zu dem wir Kinder Blumenbögen für die Fuhrwerke binden durften. Zu Weihnachten übten wir ein Krippenspiel ein, bei dem ich immer mitspielen durfte. Zum Kindertag spannten die Bauern Fuhrwerke an, die mit Bänken bestückt waren. Wir fuhren ins Nachbardorf und wurden dort mit Spielen beschäftigt und mit Streuselkuchen versorgt.

Die größten Feste fanden im „Lindenhof“ statt. Sie waren mal von der Schule und mal von der Kirche ausgerichtet. Zu Weihnachten spielten wir ein Märchen von der Schule und zu Ostern eins von der Kirche. Auch Fasching wurde gefeiert, was uns Kindern großen Spaß machte.
Um an diesen Feiern teilzunehmen musste man immer ein bis zwei Briketts, eingewickelt in eine Zeitung mitbringen. Damit wurde ein eiserner Ofen gefüttert, der den Saal heizen sollte. Mit den Jahren wurden die kirchlichen Aktivitäten weniger. Inzwischen war eine LPG gegründet und etliche Bauern die nicht einverstanden waren, nach dem Westen gegangen.

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Gastbeitrag von Ursula Demitter: Ein Leben in der DDR – Kindheit, Teil 3

Ursula Demitter aus Potsdam ist 67 Jahre alt, lebte und arbeitete in der DDR. Unter anderem bei der DEFA. Heute gibt sie Nachhilfeunterricht und schreibt hin und wieder ihre Erinnerungen von damals in Textdokumente. Da ich ohnehin ein großes Interesse an DDR-Biografien des Alltags habe und möchte, dass derartige Erinnerungen nicht auf irgendwelchen Festplatten verschimmeln und irgendwann einfach den Tod einer Festplatte sterben, packe ich die Texte von Ursula ab jetzt hier in unregelmäßigen Abständen rein. Hier finden sich alle ihrer Texte.

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(Foto: Richard Peter, unter CC von Deutsche Fotothek‎)

Anfang der Fünfziger Jahre wurde in unserer Familie beschlossen, umzuziehen.
Der Umzug hatte seine Gründe. Das Holländerviertel war damals keine besondere Adresse. Da wohnten einfache Leute in alten Häusern mit sehr einfachen Wohnungen. Meine Mutter hat später behauptet, sie hätte es vermieden, ihre Adresse zu nennen.

Mit den Jahrzehnten waren die Höfe, einst große Gärten, durch Schuppen, Ställe und kleine Handwerksbetriebe zugebaut. Ebenso die Brandgassen, die in ihrer alten Funktion nicht mehr notwendig schienen. Dem Viertel fehlte Luft und Licht. Die Keller waren feucht, da hier auf Sumpf gebaut worden war.

Nachts hörte man zwischen den Geschossen die Ratten unter den Dielen rennen. Es polterte richtig laut und jagte uns Kindern Angst ein. Auch im Keller gab es Ratten. Trotzdem fanden meine Eltern es völlig normal, eins von den Kindern in den Keller zu schicken, um etwas herauf zu holen. Meistens waren es selbstgemachte saure Gurken, die dort in einem Steintopf lagen. Da es im Keller kein Licht gab, bekam man eine Dynamo-Taschenlampe in die Hand gedrückt, die man ständig drücken musste. Vom Hof aus musste die Kellerabdeckung, die mit Gewichten über Rollen lief, angehoben werden. Der Keller stand fast immer ein wenig unter Wasser. Deshalb hatten die Mieter Bretter ausgelegt, die auf Mauersteinen lagen. Darauf balancierte man bis zum Gurkentopf. Dann wurde der Deckel abgenommen. Auf den Gurken lag zur Beschwerung ein Teller, auf dem Teller ein Stein. Beides musste raus. Dann griff man voller Überwindung durch die Kahmschicht und holte mit der Hand die geforderte Anzahl Gurken heraus. Nur schnell, so schnell wie möglich wieder raus. Ab und zu passierte es, das eine Ratte durch den Keller lief. Ich glaube, ich war nur einmal allein im Keller, dann verlangte ich Begleitung.

Eine noch größere Plage für die Bewohner des Viertels waren die Wanzen. Auf mich, ein sehr hellhäutiges blondes Kind, hatten sie es besonders abgesehen. Zweimal im Jahr, so etwa zu Pfingsten und Ende August wurden die Wanzen extrem aktiv. Dann sah ich immer sehr zerbissen aus und kratzte ständig an mir herum. Meine Mutter schämte sich dessen und hatte jahrelang geglaubt, mit äußerster Sauberkeit und regelmäßigem Großreinemachen, könnte sie den Wanzen beikommen. Sie nahm beim Putzen sogar die Betten auseinander und die Bilder von der Wand. In jede Öffnung sprühten wir das damals übliche Insektengift „Mux“ hinein. Wenn ich es recht erinnere, hat sie es sogar mit DDT versucht. Im nachhinein denke ich, es hat uns Kindern mehr geschadet, als den Wanzen.

Durch den Umzug waren von einem Tag auf den anderen, die abenteuerlichen Zeiten mit meiner Straßengang vorbei. Wir waren etwa zehn Kinder verschiedenen Alters. Ich war die Jüngste. Unsere Anführerrinnen waren zwei „große“ Mädchen. Kriemhild hatte brandrote dicke Zöpfe und viele Sommersprossen und war ein Umsiedlerkind. Wir nannten sie „Krimmi“ und nie habe ich gehört, dass sie wegen ihrer roten Haare geärgert wurde. Sie verstand es, sich zu wehren. Die zweite Anführerin, die eigentliche Eleonore hieß, nannten wir „Lori“. Sie gehörte zu einer Familie, die gegenüber der Hausnummer 18 im Hof eine Firma betrieben hatte. Noch lange Jahre konnte man die Firmenaufschrift über dem Torbogen lesen: „Stahlmatratzenfabrik Guderle.“

Wenn es dämmerte fanden wir uns zusammen. Zuerst spielten wir ein bisschen lustlos „Meister, Meister gib uns Arbeit“ oder „Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser“. Dann wurden wir aufgeteilt in Räuber und Polizisten. Das Spiel bei dem wir bis über den Bassinplatz ausschwärmten und uns gegenseitig zu überwältigen versuchten, nannten wir „Räuber und Pulle“.

Am liebsten machten wir „Klingelzug“ oder legten auf den Wegen des Bassinplatzes ein altes Portemonnaie an einem Zwirnsfaden aus. Auf den Faden wurde Sand gestreut und sobald sich ein Erwachsener nach der Börse bückte, zogen wir sie blitzschnell hinter die Hecke, wo wir versteckt lagen. Dann folgte lautes Geschimpfe auf die verflixten Straßengören und wir rannten davon, als hätten wir das Schlimmste zu befürchten.

Lange Jahre gab es um den Bassinplatz und in der heutigen Friedrich-Ebert-Straße noch zerstörte Häuser, eben Kriegsruinen. Es war uns strengstens verboten, diese Grundstücke zu betreten. Trotzdem sind wir bäuchlings in halb verschütteten Kellerfenster gerutscht und haben uns gegenseitig eingeredet, dort noch Schätze zu finden. Ein Wunder, dass alles gut gegangen ist.

Ich war gerade in die zweite Klasse gekommen, als unsere Familie aus dem Holländerviertel zum Jagdschloss Stern zog. Die Siedlung hieß Kolonie Drewitz und gehörte zum Dorf Drewitz, das damals noch kein Teil von Potsdam war. Später wurde das geändert, da waren wir Babelsberger.

Im Juni 1952 wurde es merkwürdig aufgeregt in unserer Familie. Meine Eltern hingen am Radio und machten ernste Gesichter. Mit uns Kindern sprachen sie nicht über ihre Sorgen. Das war immer so, wenn es politisch wurde. Sie hatten Bedenken, dass wir in der Schule etwas ausplaudern könnten, womöglich was Falsches sagten.

Meine Mutter erlaubte mir nicht, zu meiner Freundin zu gehen, was ich überhaupt nicht verstand. Am Nachmittag hörte ich ein lautes Brummen, das die Luft mit Schwingungen erfüllte. Ich lief durch den Vorgarten auf die Straße und sah in etwa hundert Meter Entfernung auf der Bahnhofstraße, die unsere Straße querte, eine Kolonne Sowjetpanzer. Sie kamen vom Güterfelder Truppenübungsplatz und fuhren stadteinwärts. Gemächlich bewegten sie sich vorwärts und wirbelten auf der unbefestigten Straße eine riesige Staubwolke auf.

Über die parallel verlaufende asphaltierte Jagdhausstraße konnten sie nicht fahren.
Die Russen hatten sich gleich 1945 einen Zaun um ihr Planquadrat gebaut und die Straße zur Sackgasse gemacht, weil sie links und rechts der Straße größere Villen besetzt hatten. Vor dem Krieg befand sich dort ein Sanatorium. Wir Anwohner mussten einen beträchtlichen Umweg über die Kohlhasenbrücker Straße machen, um zur Bushaltestelle in der Steinstraße zu gelangen.

Während ich gebannt auf die Panzer starrte, kam meine Mutter aus dem Haus gestürzt, schrie völlig hysterisch irgendwas von „verboten raus zugehen…“ zerrte mich wortlos auf unser Grundstück und verabreichte mir links und rechts eine kräftige Ohrfeige. Danach schloss sie sorgfältig das Gartentor ab, steckte den Schlüssel in die Schürzentasche und ging wortlos ins Haus. Normalerweise wurden wir Kinder nicht verhauen. Ich war acht Jahre alt und verstand die Welt nicht mehr.

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