Seit November letzten Jahres war alles anders. Bis dahin hatte sie ihr Leben gut auf die Reihe bekommen, obwohl sie den Verlust meines Vaters nie wirklich überwinden konnte. Wie auch, sie waren wie füreinander geschaffen. Vor sechs Wochen zog sie dann in ein Pflegeheim. Weil es anders nicht mehr ging. Ich besuchte sie dort und schrieb:
„Sie ist in den letzten 10 Jahren, nach dem Tod meines Vaters, sechs Mal umgezogen. Immer mit dem Gefühl, jetzt endlich mal irgendwo ankommen zu können. So ohne ihn. Das blieb ihr verwehrt. Vielleicht war sie ja nur bei ihm überhaupt mal irgendwie und irgendwo angekommen – und dann war er weg. Innerhalb von 14 Tagen. Einfach nicht mehr da. Nachdem er sie über die derbste Zeit ihres Lebens gepflegt hatte. Krebs, das Arschloch, hatte bei ihr angeklopft und er hatte sie über die Jahre wieder halbwegs gesund gepflegt. Alles dafür aufgegeben. Am Ende womöglich sogar auch sich selbst. Es war Liebe.
Sie schien sich dann irgendwie damit arrangiert zu haben. Lebte ihr Leben. Allein. So auf Hippie-Basis. Bunte Klamotten, Buddha, Kunst und so, Apartment hier und da, dies und das. Gut leben halt. Fand ich gut. Vor 18 Monaten fuhr sie noch mit der Bahn durch Deutschland, mit dem Bus durch Berlin, besuchte Freunde, gönnte sich all das, was sie sich in ihrem Leben verdient hatte, rief zu Geburtstagen an, machte sich Sorgen über Dinge, die nicht ihre Sorgen waren. Was sie schon immer tat, und was wohl aber auch zu ihrem Krankheitsbild gehört. Sich die Sorgen der Anderen machen.
Jetzt soll sie irgendwo dort ankommen, wo sie vorher nie war. Wo sie vorher nie irgendwen kannte. Sie müht sich, glaube ich. Sieht sehr viel besser aus als in dem letzten Jahr ihrer Krankenhausaufenthalte.
„Das ist alles so schwierig“, sagt sie, „Ich bin gerade so durcheinander“, sagt sie auch. Das sagt sie seit Monaten. „Schwierig, durcheinander, alles scheiße!“ Und ich nehme das halt so mit. Weil sie Recht hat. Weil das alles ziemlich beschissen ist. Für uns alle. Am beschissensten aber und zweifelsohne ist das alles für sie. Sie gibt ein, ihr, Leben auf.“
Ich weiß, dass sie sich seit mindestens einem Jahr gewünscht hat, sterben zu können. Es ist nicht so, dass sie dagegen gekämpft hat. Eher dafür. Jetzt hat sie es wohl geschafft und das ist okay für mich, auch wenn es verdammt weh tut.
Aber: sie wollte dieses Leben nicht. Schwerkrank, ein Jahr im Krankenhaus, dann im Heim und irgendwie doch nie so ganz bei sich. Letzten Sonntag haben wir sie nochmal im Krankenhaus besucht. Die vierte Lungenentzündung in einem Jahr. Und obwohl sich ihr Zustand in diesem Jahr schon immer mehr verschlechtert hat, sah sie noch kränker aus als all die Monate davor. Ein Schatten ihrer selbst. Sie lächelte als wir ihr das Video des Chorauftritts der Kleinen zeigten, bei dem der Hundebabies auch, die sie so gerne nochmal in echt sehen wollte. Sie staunte darüber, als die Große ihr sagte, dass sie jetzt Führerschein machen würde und noch mehr darüber, dass ich das Rauchen hab sein lassen. Ich hielt ihre Hand und in mir schlich die Angst hoch, dass das alles nicht mehr lange dauern würde. Ich sollte Recht behalten. Letzte Nacht schrieb ich auf Facebook in einem Beitrag noch darüber, wie scheiße dieses Jahr so lief und wie gern ich sie auch 2017 noch bei uns haben würde, keine Stunde später rief das Krankenhaus an. Sie sei ohne Schmerzen eingeschlafen. Aber ich habe das Gefühl, dass wir uns alle gegenseitig verabschieden konnten. Nun ist sie endlich dort, wo sie so lange schon hin wollte – bei der Liebe ihres Lebens.
Ich hoffe, die Beiden finden wieder irgendwie zueinander. Haben sich ja lange nicht gesehen. 10 Jahre ist es her, dass mein Vater starb.
Ich weiß, dass sie im Alter Rio Reiser für sich entdeckt hatte und es liebte, wenn Jan Plewka seine Lieder sang. Wir waren dort mehrfach beim Konzert. Der ist für Dich, Mama! Mach’s gut und grüß mir den Alten! Halt dich an ihm fest. Ich werd mich hier an den meinigen festhalten. Gerade jetzt.