Ab hier wird es persönlich. Warum das so ist, steht hier.
Es war ein heißer Sommer, aber für mich anders als der, wie ihn Lutz Kerschowski gemeinsam mit Rio Reiser ein Jahr zuvor schon in der Ost-Berliner Seelenbinderhalle auf die Bühne brachten, und wofür Kerschowski einen ziemlich dicken Ärger kassierte. Für mich war er anders, objektiv betrachtet allerdings war er genau das, was die beiden 88 in die Menge sangen.
Ich war das letzte Mal in meinem Leben in einem Ferienlager. Truckenthal im Thüringer Wald. Ich war oft in einem Ferienlager. Manchmal zwei Mal während der Sommerferien. Vater war bei der „Truppe“, was umgangssprachlich für die Grenztruppen stand und bis zum Ende diesen Jahres 89 auch nicht sonderlich problematisch, sondern eher etwas Privilegiertes war. Die „Truppe“ hatte für den Nachwuchs ihrer Angehörigen Land auf, Land ab überall Ferienlager. Von den schönsten Stränden an der Küste bis in die schönsten und verwegensten Ecken im Thüringer Wald. Ich war in allen über die Jahre verteilt. Diese Ferienlager waren so was wie geschlossene Universen. Es waren militärisch geschlossene Bereiche, in denen ein Großteil der dort arbeitenden Erwachsenen angehörige der Grenztruppen waren. Die Küchenfrauen und die Betreuerinnen ausgenommen. Viele trugen Uniformen, was nichts Ungewöhnliches war, man kannte das. Es war überall das gleiche.
Es war ein heißer Sommer, auch der Sonne wegen. In dem Lager gab es ein riesiges Schwimmbecken, in dem wir fast täglich badeten, wenn wir die langen Wanderungen durch die umliegenden Wälder hinter uns gebracht hatten. Diese waren anstrengend, ja. Aber sie waren auch sehr lehrreich und immer mit Erfahrungswert. Die Betreuer machten damals mit den Kindern das, was heute Erlebnispädagogik genannt wird und zu jener Zeit schlicht „Beschäftigung“ hieß. Die Betreuer in diesem letzten Jahr waren irgendwie anders, als jene, die ich in den Jahren kennen gelernt hatte. Da waren es immer eher junge Frauen der Kategorie „Tante Pionierleiterin“, mit Bluse, strengem Blick und noch strengeren Regeln. Hier allerdings setzten sie sich aus einem bunten Sammelsurium an noch Studierenden zusammen, die später Lehrer werden wollten in der DDR. Mir bis dahin fremde Wesen. Wie Außerirdische. So wie Silke, die meine Gruppenleiterin war. Sie trug gänzlich schwarz, hatte schwarz gefärbte Haare, schwarz lackierte Fingernägel, schwarz geschminkte Augenlieder und manchmal ein lilafarbenes T-Shirt an, das ihr um Längen zu groß war. Sie hörte mir bis dahin fremde Musik von Allison …, The Cure und New Order. Sie war „Grufti“, wie ich erst später erfuhr. Abends, wenn die offizielle Nachtruhe einsetzte, saß sie sich mit den anderen Gruppenleitern unter diese typischen Holzdächer, die mit Baumschwarte gedeckt waren und unter denen sich jeweils ein Tisch und zwei Sitzbänke befanden. Sie grillten dann, tranken viel Kola mit Goldbrand, was sie „Futschi“ nannten und redeten bis in den Sonnenaufgang. Manchmal sehr laut, manchmal sehr emotional. Wir, in den Bungalows aus Naturholz, die irgendwie an das Haus von Daniel Boone erinnerten, hatten nachts deshalb weitestgehend unsere Ruhe. Das gab es so vorher in keinem anderen Ferienlager. Mitunter wurden wir in diesen nach militärischen Vorbildern sanktioniert, wenn wir die Nachtruhe all zu sehr störten. In Prora, so kann ich mich erinnern, wurde die Einhaltung der Nachtruhe von jungen Soldaten gewährleistet. Sie ließen uns mitunter dann aus den Betten steigen, brachten uns auf diese langen, nach Pisse stinkenden Flure und ließen uns dort „Haltung annehmen“, wie sie das nannten. „Haltung annehmen“ bedeutete, sich mit vorgestreckten Armen und leicht eingeknickten Knien vor sie zu stellen. Minutenlang, was einem mitunter wie Stunden vorkam. Wenn wir dann erklärten, dass wir nicht mehr so stehen könnten, hatten sie meistens ein Einsehen und ließen und noch 20 Liegestütze und 50 Kniebeuge machen. Sie wollten uns damit „müde machen“, was nur selten funktionierte, sich aber dennoch in manchen Jahren als nächtliches Ritual einschleifte. Wir hassten sie dafür, diese jungen Soldaten, die meistens nicht älter waren, als unsere großen Brüder.
Das zog sich durch die Jahre und gehörte letztlich zu den Ferienlagern genauso dazu, wie der immer grundsätzlich saure Tee, den es für jeden frei verfügbar aus den überdimensionierten Thermos-Bottichen gab, die irgendwie verlassen in den großen Speisesäälen standen. Ich glaube, der schmeckte immer so furchtbar sauer, weil die den erst dann nachfüllten, wenn diese Bottiche alle waren. Da der aber so sauer schmeckte, trank den keiner. Also stand er da und gärte geduldig vor sich hin. Heute würde ich hingehen und die Suppe einfach ausleeren, damit neuer reinkommt. Aber ich war Kind – ich trank Wasser aus der Leitung.
Sanktionen der obigen Art gehörten genau so dazu, wie die morgendlichen Fahnenapelle, die die volle Packung „Seid bereit“-Gedöns beinhalteten, der morgendliche Frühsport und die von mir verhassten Neptun-Feste, vor denen ich immer panische Angst hatte. Auch weil ich immer einer der Großmäuligsten der Gruppe war. Wenn „unbeugsam“ ein nicht so heroisierendes Wort wäre, würde ich schreiben, dass ich genau das war. Unbeugsam. Es traf mich nie, allerdings waren diese Stunden des Wartens ein Qual. Immer wenn ein Name aufgerufen wurde, hatte ich Angst, dass sich Neptuns Häscher auf mich stürzen würden, dann meinen Kopf erst in diesen stinkenden Holztrog, der mit allerhand ekelhaftem Zeugs gefüllt war, zu stuken um mich dann ins Wasser zu werfen. Es war in diesem Jahr, dass einer der zum Taufen auserkorenen es schaffte, den Häschern zu entkommen. Es war das einzige Mal, an das ich mich erinnere. Er kletterte über den Zaun, auf dessen Krone Stacheldraht gezogen war, was ihm einige Wunden einbrachte, und rannte einfach in den Wald. Sie fanden ihn nicht. Erst abends, nachdem das Fest lange vorbei und alle am Lagerfeuer saßen, kam er zurück. Als der Held vieler. Er bekam keinerlei Ärger für sein Verhalten. Das war bis dahin ein absolutes Unding!
Ich rede mir heute ein, dass ich es genau so getan hätte, wenn sie meinen Namen gerufen hätten. Zumindest aber hätte ich es versucht, vielleicht.
Diese unschönen Dinge gehörten eben genauso dazu, wie die wunderbaren Erinnerungen an diese Ferienzeiten. Die langen Busfahrten zu den Lagern, bei denen immer Spannung und mindestens tausend Erwartungen im Bus die Atmosphäre beherrschten, das frei Sein von den Eltern, die vielen besten Freundschaften, die wir alle schlossen, jene, die vor Ort Jahrtausende überdauern sollten und genau so lange hielte, bis man den Bus nach der Heimfahrt verließ, und in den Trabant der Eltern stieg.
Trotz der Eskapaden, die mir heute als Pädagoge das reinste Grausen durch den Kopf jagen, waren das wundervolle Wochen. Fast immer. Aber in genau jenem Sommer 1989 war vieles anders, war vieles so, wie ich es bis dahin nicht erlebt hatte. Ich wusste nicht was und ich wusste nicht warum.
Es war ein heißer Sommer, ihr Name war Nikki. Sie kam aus Berlin-Lichtenberg, wo ihr Vater irgendwo Kompanie-Chef war. Sie war ein Jahr älter, ich war fast 13. Sie war das schönste Mädchen, das ich bis dahin gesehen hatte. Wir trafen uns jede Nacht, wenn die Gruppenleiter ihre Debatten mit Suff anheizten, hinter einem der Bungalows. Immer an der fensterlosen Seite, damit uns niemand sehen konnte. Sie schenkte mir ihren ersten Zungenkuss, ich ihr den meinigen. Sie war das erste Mädchen, dem ich „unter’s T-Shirt“ ging. Es fühlte sich großartig an, sie fühlte sich großartig an, ich fühlte mich großartig. Wir machten dabei diese merkwürdigen Geräusche, die wir aus den Filmen kannten. Diese, die immer Freitagnacht auf SAT.1 liefen und die fast jeder sah, wenn die Eltern schon dem Schlaf verfallen waren. Wir lachten selber über dieses albernen Getue und machten ohne dieses weiter.
Tagsüber lagen wir oft auf dem Fußballplatz, guckten in die Quellwolken und erzählten einander, was jeder in diesen sehen konnte. Manchmal fiel der für uns völlig abstrakte Begriff „Freiheit“.
Ich glaube, wir glaubten damals nur, dass wir verliebt waren. Heute aber glaube ich, wir waren es wirklich. Zumindest ein bisschen. Wir schworen uns ewige Liebe. Auch, dass wir uns regelmäßig besuchen würden. Natürlich taten wir das. Nur: Berlin war für mich damals mindestens soweit weg, wie Leipzig, auch wenn ich nicht mal 30 Kilometer Luftlinie von ihr entfernt wohnte. Sich verabreden ging nur über Briefverkehr. Sich telefonisch zu erreichen war fast unmöglich weil telefonieren grundsätzlich fast unmöglich war. Es gab für den einfachen Bürger nur die Telefonzellen, in denen man zwar angerufen werden konnte, was aber auch erst verabredet werden musste. Es war hoffnungslos. Als ich den Bus verließ, der sie weiter Richtung Berlin bringen sollte, heulten wir uns die Augen aus den jungen Köpfen. Wir schrieben zwei, drei Mal hin und her. Wir sahen uns nie wieder.
Irgendwann aber, es muss 93 der 94 gewesen sein, lief ich über den S-Bahnhof Lichtenberg. Mir kam eine junge Frau entgegen, die genau so aussah, wie Nikki die Jahre vorher. Nur das Haar hatte sie jetzt nicht mehr ganz so blond. Sie blieb vor mir stehen – wir sahen uns schweigend an. Lange. Dann ging ich weiter, sie auch. Im Fortgehen drehten wir uns beide um und lächelten. Ich glaube, es war sie.
Ich spürte damals, das „etwas in der Luft“ lag, wie die Mutter es oft sagte. Da draußen in unserer kleinen Welt rumorte es und das war nahezu unmöglich, sich diesem gesellschaftlichen Gefühl zu entziehen.
Kurz vor diesem Sommer musste ich den Gruppenrat verlassen, auf dessen Mitgliedschaft ich so was von stolz war – kurz nach diesen großen Ferien im Sommer 89 wurde mir meine Mitarbeit im Freundschaftsrat verwehrt, mir mein Pioniertuch entzogen, mir die Möglichkeit genommen, in die FDJ eintreten zu können.
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